Das von Luis Molera und Wolfgang Brödlin im Jahr 2001 ins Leben gerufene Taiji-Treffen feierte in diesem Sommer sein zehnjähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass gab es neben dem üblichen Angebot aus Workshops und freiem Tuishou einen Märchenabend am Freitag und am Sonnabend ein großes Vorführungsprogramm sowie ein Konzert mit afrikanischer Musik und viel Tanz. Roberta Polizzi berichtet von ihren Eindrücken.
Drachen und Tiger wurde zehn Jahre alt. Es gab berührende Momente bei der großen Feier zum zehnjährigen Jubiläum des nördlichen Taiji- Treffens, das mit Dankesreden und Rosentöpfen, Vorführungen und Märchenerzählungen, Lager- feuerromantik samt Brotstockkunst und schließlich einer sagenhaften Tänzer- und Trommlerband aus dem Senegal ergiebig zum Mitfeiern einlud. Taiji-Treffen wie dieses bieten auch immer eine Gelegenheit, sich die so zahlreichen und unter- schiedlichen Auffassungen von Taijiquan wieder einmal vor Augen zu führen. Es lassen sich Ähnlichkeiten entdecken sowie Unterschiede feststellen und es kommt vor, dass Dinge, die einem selbstverständlich schienen, auf einmal erzählenswert oder vielleicht erklärungsbedürftig vorkommen. Beides ist fruchtbar, so können neue Ideen entstehen, vielleicht neue Projekte. Manchmal wird es möglich, Verbindungen und Zusammenhänge, auch persönlicher Art, zu durchschauen, die interessant und vielleicht sogar wichtig sind, um manches zu verstehen.
Neben politischen – wie so oft in der noch relativ kurzen Taiji-Geschichte – oder wirtschaftlichen Gründen sind es häufig persönliche Begegnungen oder Neigungen, die Menschen in Bewegung setzen. Auch durch diese Wege werden Taiji-Inhalte und -Traditionen weitergetragen, vermischt, verbreitet und entwickelt. Während also neue Kontakte entstehen und alte sich festigen, wird das Wissen über die Vergangenheit weitergegeben und das Gedächtnis lebendig gehalten. Auf diese Weise erneuert sich die Tradition der mündlichen Überlieferung, die durch solche stilübergreifenden Festivals nicht auf eine »Schule« begrenzt bleibt.
Geschichten gab es bei diesem Treffen einige zu hören: Zum Beispiel die zur Entstehung dieses Treffens im Norden. Wir haben gehört, wie die Idee auf einer Rückfahrt vom Taiji-Treffen von Jasnieres (F) – der Mutter aller stilübergreifenden und nicht kompetitiven Push-Hands-Treffen in Europa – den zwei übermüdeten Fahrern Wolfgang Brödlin und Luis Molera in den Sinn kam; wie sie sich dann aufmachten, einen geeigneten Campingplatz bei Bremen zu finden: Einen kleinen See sollte er haben, schön in der Natur gelegen sein und freundliche Menschen sollten ihn betreiben. Die Idee schien gewagt: Das Wetter ist hier nicht ganz so wie in Südfrankreich, um es milde auszudrücken, und ob es Bedarf für ein weiteres Treffen gab, war fraglich. Die Resonanz war sofort gut:
45 Menschen kamen beim ersten Mal zusammen, trotz Regen und einer sehr reduzierten Organisation. Fotos hingen zum Jubiläum an dem großen Zelt – das seit ein paar Jahren vom Wetter unabhängig macht – und dokumentierten sowohl die prekären Bedingungen als auch die amüsierten und zufriedenen Gesichter von damals. Seit zehn Jahren findet nun das Treffen auf dem Campingplatz Aschenbeck bei Dötlingen statt, gut 40 LehrerInnen haben hier unterrichtet und mehr als Tausend Taiji-Spieler-Füße haben das Wiesengras platt getreten. Das Treffen ist mittlerweile für viele Taiji-Übende aus Deutschland und Holland zu einem festen Termin im Kalender geworden.
»Drachen und Tiger« – wohl aus klanglichen Grün- den sofort zu »Tiger und Drache« im Taiji-Volksmund umgetauft – findet grundsätzlich am letzten Juni-Wochenende statt. In diesem Jahr musste es allerdings um zwei Wochen verschoben werden. Dadurch kollidierte das Treffen mit diversen anderen Ereignissen und war trotz großen Festprogramms etwas spärlicher besucht als sonst. Dennoch kamen 75 Leute zusammen.
So viele hungrige TeilnehmerInnen drei Tage lang leiblich zu versorgen ist keine leichte Aufgabe, bei der diesjährigen Hitze – für uns draußen ein tolles Wetter, 40° Celsius waren es in der Küche – wurde es für die freundlichen Betreiber des Restaurants zu Aschenbeck zu einer fast heldenhaften Tat, die allerdings mit Würde, Stolz und tadelloser Präzision vollendet wurde. Das Mittagessen war wie immer lecker, üppig, abwechslungsreich und täglich mit ausgezeichneten Desserts versehen. Gut, dass man sich dort auch bewegt.
Wie üblich waren in diesem Jahr sechs Lehrende eingeladen, eigene Schwerpunkte vorzustellen und mit den anderen zu teilen. Die Lehrergruppe war diesmal deutlich internationaler als die TeilnehmerInnen ausgefallen – zumindest nach dem Pass zu urteilen. Es waren dabei: Laura Stone (USA/NL), Luis Molera (ES), Sasa Krauter (D), Godfrey Dornelly (GB), Christian Unverzagt (D), und Roberta Polizzi (I). Wieder haben sich die OrganisatorInnen an das bewährte Konzept gehalten, bekannte und weniger bekannte Gesichter als Unterrichtende einzuladen. Bevor sie die Schwertform nach William C. C. Chen vorführte, erzählte Laura Stone, eine der bekanntesten US-amerikanischen LehrerInnen in Europa, wie sie 1987 zum ersten Mal nach Europa kam, – und wir bekamen weitere Taiji-Geschichten zu hören.
Luis Molera, der seit 1984 Schüler von William Chen war, fing 1987 an, seinen Lehrer nach Bremen einzuladen; Laura kam als seine Assistentin aus dem USA mit und aus diesem ersten Besuch entwickelte sich ihre fruchtbare Beziehung nach Europa. Jeden Sommer begleitete sie William Chen auf seinen Europatouren, bis ihr 1993 in Amsterdam die Liebe begegnete, sie schließlich nach Holland umsiedelte und ihre eigene Schule in Deventer gründete. Hier hat sie seit 1996 mit ihrer weichen, empfindsamen Art, Taiji zu unterrichten, vielen Menschen die Tür zum Taijiquan eröffnet. Laura praktiziert Taiji seit 1972.
Die Arbeit von Luis Molera, wie erwähnt einer der Begründer dieses Festivals, war wiederum handfest in den jungen Gesichtern zu bewundern, die ganz auf eigene Faust zum Tiger und Drachen gekommen waren – und das nicht zum ersten Mal. Die jüngste Teilnehmerin, Anne-Marie, ist 1992 geboren und war schon zum zweiten Mal beim Treffen dabei. Sie hatte sich als 15-Jährige ein Schwert zum Geburtstag gewünscht, schaute allerdings unglücklich zur Wand hin, wie dieses leblos daran hing.
Sie entschloss sich, das Schwert zum Leben zu bringen, und fing an im Bremer Tai Chi Verein bei Brigitte Krafft die Schwertform nach Zheng Manqing zu erlernen. Seit zwei Jahren übt sie sich mit Begeisterung auch in den anderen Disziplinen, eingeschlossen das Push Hands. Sie glänzte nicht nur in den gemeinsamen Vorführungen, sondern auch mit ihrer so frischen und natürlichen Art, da zu sein, zu kommunizieren und bei allem mitzumachen. Und da war auch Max, 1987 geboren, der mit – oder trotz – seinem etwas verträumt wirkenden Blick, sich bei den Partnerübungen als ein aufmerksamer Gegenüber entpuppte, der präzise und konstruktive Rückmeldungen zu geben wusste. Obwohl er gerade mal seit sechs Monaten beim Taiji ist, machte er bei den Vorführungen wie selbstverständlich mit.
Am Samstag ging es gegen 16 Uhr mit den Dank- und Erinnerungsreden los. Wolfgang Brödlin, der nicht nur Mitbegründer, sondern auch weiterhin einer der Köpfe hinter dem Treffen ist, hält sich normalerweise im Hintergrund. Ich hatte ihn bis jetzt immer nur am Kneipentisch mit Brigitte und den anderen bemerkt. Da reflektiert man rege nach dem Treffen über die gelaufenen Tagen und sammelt neue Anregungen für weitere Entwicklungen.?Diesmal drängte sich aber Wolfgang doch nach vorne, zur Bühne, holte sich eine Kaffeetasse als Beweisstück und erzählte über seine Gedanken und persönlichen Einsichten zum Taijiquan und zum Pushing Hands. Als ihm nämlich, auf seine Frage hin, ein Meister erklärte, dass die be- rühmten vier Unzen – die man höchstens als Taiji- Spieler an Kraft einsetzen soll – in etwa der Kraft entsprechen, die man braucht, um eine Kaffeetasse zu heben, beschloss er diese Aussage ernst zu nehmen und die Möglichkeiten, mit dieser Kraft zu arbeiten, selbstständig zu erforschen. Daraus hat sich in den Jahren ein weiches, fließend tänzelndes Moving-Step Pushing Hands entwickelt, das sich mit Hella Ebel als Partnerin leicht und luftig auf der Bühne demonstrieren ließ.
Die Begründer wurden anschließend mit erdigen Rosentöpfen beschenkt und bedankt, es war zu heiß für Blumensträuße. Etwas verwirrend war es, dass Brigitte nicht einmal erwähnt wurde. Dann aber wurde ein weiterer Rosentopf herein- gebracht, noch größer als die vorangegangenen, begleitet von einer vielfach unterschriebenen Postkarte und viel Applaus. Persönlich bin ich für Dankesreden extrem empfindlich und, ja, mir kamen die Tränen (ein wenig). Das muss nicht sein, das weiß ich, aber die Szene war wirklich berührend. Man ahnt doch, wie viel Arbeit und Energie die Organisation von so einem Treffen kostet; Brigitte, mit ihrer direkten und manchmal brüsk wirkenden Art – in diesem Jahr rief sie uns mit einer Trillerpfeife wie aus einem Rettungseinsatz zur Ordnung! – setzt nicht nur viel Klarheit (das hilft immer), sondern auch viel Liebe und ihr großes Herz in die Organisation ein. So war der Applaus
echt und die Rührung auch, als Brigitte ihren wohl verdienten Rosentopf entgegennahm. Anschließend folgten viele Gruppen-, Duo- und Solovorführungen. Hand- und Waffenformen wurden gezeigt, von Schwert bis Säbel, Stock und Fächer und auch ein einfacher Spazierstock war dabei. Schon seit dem Anfang des Treffens wanderten die Tänzer und Musiker aus dem Senegal mit ihren swingenden Körpern und entspannten Gesichtern durch das Gelände. Sie schienen die Atmosphäre zu genießen und waren offensichtlich dabei, uns zu beobachten und zu studieren. Auch die Vorführungen verfolgten sie aufmerksam. Sie freuten sich wahrscheinlich schon auf den Abend, wohl wissend, dass wir uns später ihnen, ihren Rhythmen und ihrem kommunikativen Charme ergeben würden.
So kam es auch. Gekonnt schaltete der Hauptsprecher und Sänger unter ihnen – Nago Koité – zwischen einem raffinierten Deutsch und der eigenen Sprache hin und her. Eine Sprache, die uns erreichte, ohne dass wir sie wörtlich verstehen mussten und konnten. Es war klar, dass er Geschichten erzählte, seine Mitmusiker ansprach, sie vielleicht auf den Arm nahm, wenn nicht gar manchmal auch freundlich tadelte. Die anderen hörten offensichtlich auf ihn und lächelten bei Gelegenheit amüsiert oder leicht verlegen. Dann wechselte er aber auch wieder zum Deutsch, um uns mit auf die Reise zu nehmen. Die Musik tat es aber auch schon: Kaum einer hat sich vom Tanzen zurückhalten können und tranceartige Zustände waren hier und da zu beobachten.
Einzelne trauten sich nach vorne (auch diverse Kinder), wo sie gleich von einem der Trommler rhythmisch aufgenommen und zu mehr gefordert wurden. Besonders zu genießen war der Moment, in dem Brigitte anfing, die langsame Taiji-Form zu den heftigen Rhythmen zu laufen. Bald schlossen sich einige ihrer SchülerInnen an: Die fließenden Bewegungen schienen wie auf Wolken zu schweben. Kurz darauf wurde Sasa Krauter, die bei den Vorführungen wohl auserwählt worden war, laut von den Musikern nach vorne gerufen. Sie kam und sprang und stampfte und führte einen kräftigen Taiji-Tanz im Takt der Rhythmen vor. Wir wurden auf diese Weise Zeuge von zwei der unendlichen Möglichkeiten, die den Taiji-Formen innewohnende Musik zum Ausdruck zu bringen. Brigitte Krafft lernt bei den tollen Senegalesen seit diversen Jahren afrikanischen Tanz. Es war für sie also ganz selbstverständlich, die Band auch für das »Drachen und Tiger«-Jubiläum einzuladen. Für die Afrikaner war es scheinbar eine Offenbarung, wie sich die eigene traditionelle Musik mit Taiji-Bewegungen betanzen ließ; sie sprachen die nächsten Tage immer wieder davon, wie Brigitte berichtet. Ob sich aus einer persönlichen Verbindung mit der Zeit einmal wieder ein neuer Taiji-Stil entwickeln wird, wollen wir nun erstmal beobachtend abwarten. Wer weiß, vielleicht wird uns beim 20-jährigen Jubiläumsfest schon das Afro-Taiji entgegenspringen und uns mit seiner erdigen, schwingenden Eleganz begeistern.
Bilder zum Drachen und Tiger Treffen