Meditation II – Das verflixte Selbst

Das verflixte Selbst und wie wir es finden (und wieder verlieren)

Um nichts wird heute mehr Rummel veranstaltet als um das, was wir ganz selbstverständlich in uns tragen und uns deswegen auch niemals in Ruhe lassen wird: unser Selbst.

Als besonders wünschenswert gilt es, ein klares Bewusstsein davon zu bekommen. Wir nennen das dann auch gerne Selbstbewusstsein. Oft wird das Selbst optimiert – wozu auch immer – und mit dem Flair einer persönlich eimaligen Note, besonderer Individualität und auch gelegentlich mit dem Nimbus des Außergewöhnlichen umstäubt.

Meditation II - Das verflixte Selbst

Was bitte schön ist dieses Selbst?

Doch wie ist es eigentlich mit diesem Selbst? Wie wichtig ist es wirklich und ist nicht eigentlich schon in diesem Selbst, auf das wir mehr oder weniger stolz sind, doch viel mehr enthalten von dem, was wir gar nicht selbst sind? – Sehen Sie!? – Jetzt wird’s schon schwieriger. Wieviel tragen wir eigentlich vom anderen in uns, was – wie der Philosoph vielleicht sagen würde – das Nichtselbst ist (das Andere, der „Alien“) und wie weit kann ich mich eigentlich dieses Anteils, der mich in meiner heiligen Selbstigkeit (oder auch Selbstlosigkeit) stört, wirklich entledigen?

Gnothi seauten – erkenne Dich Selbst – so die Inschrift am heiligen Tempel des Apollon von Delphi. – Was bereits in der Antike als hehres Lebensziel galt, hat offenbar bis auf den heutigen Tag nichts an Reiz oder gar Notwendigkeit verloren, scheint aber im Verlauf der fortschreitenden Weltenjahre nicht gerade leichter erreichbar zu sein.

Komplexe Welt – komplexes Selbst

Die Welt scheint komplizierter denn je (vielleicht war sie das ja immer schon?). Die Herausforderungen, an die wir uns vermeintlich anpassen sollen, um „ganze Subjekte“ zu sein und auch noch als solche anerkannt zu werden, scheinen (oder sind?) komplexer, verwirrender und verwinkelter denn je.

Umso wichtiger wird es in diesem Chaos zwischen dem, was wir (selbst) sind, dem was wir sein sollen und dem, was von außen und von uns selbst anerkannt wird, eine Balance zu finden. Einen halbwegs stabilen Zustand, in dem wir uns zumindest zentriert und halbwegs eins, ohne Brüche im Selbst erleben können.

Wir trennen zwischen dem, was wir für das Unsere halten und dem, womit wir absolut nichts zu tun haben wollen.

Um es an dieser Stelle gleich zu sagen: das, womit wir es am wenigsten zu tun haben wollen, so absolut nicht zu unserem Selbst zählen möchten, das ist ihm nicht selten ziemlich nah und ist mehr oder weniger aus unserem Haus (unserem Selbstbild würde der Psychologe Rogers sagen) ausgeschlossen. – Es geht dabei nicht um das offensichtlich Abstoßende, das Gewalttätige, das Menschenverachtende, zu dem wir eine klare Haltung entwickelt haben, nein – es geht mehr um das, was wir um keinen Preis haben oder sein möchten, was um keinen Preis zu uns gehören soll, weil wir es aus unserer Sicht so ablehnen, aber uns in zwiespältiger Weise in einem geheimen Winkel unsers Selbst (da ist es wieder) doch danach sehnen oder es beneiden.

Identisch sein? – Wer ist da eigentlich mit wem identisch?

Wieder begreifen wir die Meditation als ein wertungsfreies Heranfluten der Gedanken darüber, was eigentlich zu uns selbst gehört. Welche Haltungen, welche Einstellungen, welche Gewohnheiten, welche Tugenden und hehren Gedanken, welche Eigenschaften gehören zu mir und sind so an dem Bild meines Lebens und Er-lebens beteiligt? Soweit der leichtere Teil der Übung. (Vielleicht)

Danach nehmen wir einmal das wahr, was uns an der Welt und den anderen so absolut nicht passt und was unter keinen Umständen dazu gehören soll. Im Allgemeinen ist es das, was wir am aller schärfsten bekämpfen und nicht in unserem Häuschen haben möchten. Was sind das für Untugenden, welche Verhaltensweisen, welche Haltungen?

Wir schauen uns im Zu- und Abfluss des Atems einmal in Ruhe an, was uns besonders, am besten auch am anderen, so sehr stört, dass wir niemals so sein möchten und dass wir alles tun würden, um es zu bekämpfen. –

Nicht selten haust das Selbst auch im Anderen

Philosophie

Nun stellen wir uns einmal vor, was geschehen müsste, damit es dazu gehören könnte, dass wir es als Teil unseres Selbst begreifen könnten. – Wir stellen uns einmal vor, wie es gewesen sein könnte, bevor es aus dem Haus geworfen wurde? War es einmal etwas, was zu uns selbst gehörte, das aber nicht in unserem Raum stehen durfte, weil es andere störte?

War es schon immer so da draußen oder haben wir es erst zu einem da draußen erklärt, weil es nicht in der eigenen Wohnung stehen durfte? Warum verachten wir es so vehement am anderen, der ausgeschlossen werden soll?

Was haben wir selbst hinzugefügt, damit es nach da draußen musste und wir es um keinen Preis wieder zu uns zurücklassen dürfen?

Überlegen Sie einmal in Ruhe, ob Ihnen das da draußen ein wenig bekannt vorkommt und ob Sie es eigentlich doch gerne in Ihrer Wohnung hätten, aber befürchten, dass es den Rest der Wohnung durcheinanderbringen könnte.

Stellen Sie sich vor, was anders an dem da draußen sein müsste, damit es passen könnte. – Stellen Sie sich vor, dass die Wut, die Arroganz, die Überheblichkeit, der Neid der Anderen früher einmal Ihre eigene Sehnsucht nach Anerkennung, nach sicherem Halt, nach Bedeutung, nach Verständnis in den Blicken Ihrer Eltern war – heute womöglich in den Blicken Ihrer Kinder ist …

Ihr Selbst ist immer auch fremd und das Fremde ist immer auch Teil Ihres Selbst

Nun schauen Sie sich das da draußen, was nicht zu Ihnen gehört, noch einmal an. Sie sollen es nicht verbiegen, nicht anders machen, als es ist… fragen Sie sich, wie viele Baustoffe und Materialien aus Ihrem eigenen Haus dort draußen in diesem ausgeschlossenen Gegenstand stecken…in diesem alten muffigen Sessel, dieser hässlichen Lampe mit dem schummrigen Licht, diesen alten Ölschinken aus den Räumen Ihrer Vergangenheit.

Überlegen Sie sich, wieviel Prozent das vielleicht sind… ein halbes, oder sogar ein Prozent von Ihren Wünschen und Bedürfnissen, die jetzt da draußen so sperrig in Wut und Ärger stehen – so ausgeschlossen, so mutter- oder vaterseelenallein. Vielleicht nur ein Prozent von Ihnen oder sind es doch zehn Prozent?

Lassen Sie die Gedanken im ruhigen Atem an sich heranfluten und vorüberziehen. Überlegen Sie sich, ob Ihnen ein Teil Ihrer Wohnung fehlt, wenn Sie die 10 oder womöglich 20 Prozent da draußen lassen – auch wenn Sie sie immer noch nicht richtig anschauen können. Was steckt darin, dass wir es nicht bei uns haben wollen?

Warum sperren wir eigentlich Dinge aus, die einst uns gehörten?

Ist daran nicht womöglich doch etwas Wichtiges geknüpft, was zu uns gehört und was da draußen so auf uns wirkt, als sei es bedrohlich für uns – und wenn wir es wieder in uns hätten, dann womöglich unsere Mauern stabiler und fester machen könnte, obwohl wir Angst vor einer Erschütterung haben?

Schauen Sie noch einmal nach draußen. Wie sieht das dort jetzt aus? Ist es immer noch wie vorher? Gehört es doch ein Stück zu Ihnen? Was müssten Sie tun, um es sich zurück zu holen? – Atmen Sie tief ein und aus. Achten Sie nur auf Ihren Atem…einige Minuten nur ein und aus… bleiben Sie bei Ihrem Atem. Kommen Sie dann wieder im hier und jetzt an, in der Gegenwart des Draußen.

Das Selbst wird stabiler, wenn wir seine Teile von draußen nach drinnen holen

Sie werden bemerken, dass Sie mit der Zeit entspannter mit Dingen umgehen, die Sie früher stark bekämpfen und abwerten mussten oder von denen Sie bekämpft und abgewertet wurden. Sie werden womöglich bemerken, dass Sie sich stärker fühlen und auch eher in sich ruhen.

Es geht bei dieser vorsichtigen Meditation nicht darum, das wirklich Feindliche dort draußen in ihr Haus, also in ihr Selbst zu holen, sondern vielmehr zu erkennen, was an dem da Draußen schon immer zu Ihnen gehörte. In der Sprache der Psychologie integrieren Sie nach und nach ausgelagerte Selbstanteile, was dann, nun kommen wir wieder an den Anfang zurück, zu einer Stärkung Ihres Selbst führen kann.

Was wir für unser Selbst halten ist häufig das, was Eigenes ausgrenzen muss

Wissen Sie nun immer noch nicht, wer Sie Selbst sind, so ist das nicht so bedenklich, wie Sie selbst vielleicht glauben.

In Wirklichkeit waren Sie von Ihrem ersten Lebenstag an ein soziales Wesen, das mit anderen verbunden war und es hat Sie viel Mühe und Arbeit gekostet, so schön individuell (unteilbar, vielleicht unmitteilbar) zu werden, wie Sie jetzt sind. Womöglich haben Sie dabei etwas abgeteilt, das vorher zu Ihnen gehört hat und in etwas verdrehter und verkehrter Art immer noch versucht, zu Ihnen zurück zu kommen, Sie womöglich verzweifelt zu lieben.

Geben Sie Ihren Schätzen, die da draußen in der Tonne liegen und nicht abgeholt werden eine kleine Chance und schauen Sie nach, ob nicht vielleicht doch ein Gold Nugget dabei ist.

Sie werden sehen: auf diese Weise ist die Selbsterkenntnis gar nicht so schmerzhaft, wie wir im Allgemeinen annehmen, sondern wir holen uns etwas zurück, was uns gehört und wonach wir uns womöglich schon lange gesehnt haben.

Da es aber draußen stand, durften wir nicht mal daran denken, es uns zu nehmen.

Wir finden etwas, was wir niemals verloren haben und verlieren gleichzeitig ein so genanntes Selbst (der Psychologe nennt es auch falsches Selbst), das aufwendig damit beschäftigt war, all das zu uns gehörige draußen zu halten und es mit dem Schein der Nicht-Zugehörigkeit zu verpacken.

Gehen Sie das Wagnis ein zu sich zu finden, indem Sie etwas von sich selbst verlieren. Sie können nur mehr dazu gewinnen.

Autor: Rüdiger MackenthunHeilpraktiker und psychologischer Berater

Fotos: Taiji Forum und Loni Liebermann