Taiji – ein zentraler Begriff in der kulturellen Überlieferung Chinas und den sogenannten Weg-Künsten wie Taijiquan, Qigong, Wushu, Kalligraphie… Zum philosophischen wie historischen Hintergrund des Begriffs Taiji verweise ich auf den Artikel „Taiji (chinesische Philosophie)“ von Martin Bödiker, der die Begriffe Wuji, Taiji und Yin/ Yang in Entstehung und Bedeutung erläutert. Wenn über Qigong gesprochen wird, werden in erster Linie die Begriffe „Qi (Chi)“ (nur annäherungsweise übersetzbar mit Lebensenergie oder feinstofflicher Energie) und „Gong“ (Übung, Arbeit, Fähigkeit) erläutert, es wird über die alte Tradition der Lebenspflege (Yangsheng) gesprochen und über die Einbettung des Qigong in den Gesamtkanon der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).
Doch Qigong-Praxis fußt auch auf dem philosophischen Prinzip der „Einheit der Zweiheit“, wie es im Taiji symbolisiert wird. Das gilt sowohl für die eher moderneren Formen des Qigong, die hauptsächlich der Gesundheitsvorsorge dienen, wie für umfassendere Übungsmethoden, die mit klarem Bezug zur Philosophie (Daoismus, Buddhismus) Qigong zu einem Begleiter auf dem eigenen Lebensweg werden lassen. Hier geht es um Erkenntnis, Persönlichkeitsentwicklung, Achtsamkeit, tiefes Gewahrsein, um spirituelle Entfaltung. Körperliche, geistig-seelische und soziale Gesundheit sind Aspekte davon und Ausdruck einer gelingenden Übungspraxis.
Aus der Sicht von Taiji ist es sinnlos, die Teile unseres Seins isoliert zu betrachten: Körper und Geist, Materie und Energie, den Einzelnen und die Welt. Wenn wir das Prinzip Taiji erforschen, entdecken wir: Die vermeintlichen Gegensätze sind nicht voneinander getrennte, für sich allein existierende Phänomene. Oder wer hat jemals eine „Nacht“ erlebt aber keinen „Tag“? Gegensätze lassen sich nicht einmal ohne den jeweils anderen Aspekt denken. Oder was sollte „öffnen“ bedeuten, wenn man nicht zugleich weiß, was „schließen“ ist?
Das klingt ganz logisch und doch widerstrebt die Kernaussage von Taiji der Logik, nach der unser Verstand normalerweise arbeitet. Sein Modus ist „entweder-oder“: Es ist entweder Nacht oder Tag, etwas ist entweder heiß oder kalt. Taiji aber bezeichnet nicht nur die Polarität von Yin und Yang, es drückt ebenso die Einheit der Zweiheit aus. Oder umfassender: Die Einheit des Seins. Wahrnehmung und Erkenntnis im Taiji-Sinn funktionieren unter der Prämisse des „Sowohl-als-auch“.
Polaritäten bilden, so fanden schon die Daoisten bei der Beobachtung der Abläufe in der Natur, Regel-Kreisläufe. Der Tag wandelt sich in die Nacht, diese wandelt sich wieder in den Tag. Wenn etwas aufsteigt und seinen höchsten Punkt erreicht hat, wird es wieder sinken. Ein schönes Beispiel ist der Wasserkreislauf: Das Grundwasser steigt über die Pflanzen und die Verdunstung in den Himmel auf, sammelt sich in Wolken und, wenn sie gesättigt sind, regnet es herab und sinkt weiter bis zum tiefst möglichen Punkt der Erde. Der Kreis schließt sich und dreht sich erneut. Und er dreht sich nur deshalb, weil im Moment des Steigens zugleich ein Sinken stattfindet. Wie Laozi (Laotse) sagt: das eine erzeugt/ermöglicht das andere. Dies Wechselspiel ist der zentrale Motor des Lebens, und Qi ist das, was da fließt und immer wieder den Ausgleich sucht, die Balance zwischen den Polen, zwischen Yin und Yang. Deshalb sagt man im Qigong, die Bewegung fließt „ohne Anfang, ohne Ende“.
Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwierig und leicht stützen einander. Lang und kurz bestimmen einander. Hoch und niedrig sind abhängig voneinander. Vorher und nachher folgen einander.
Laotse, Tao Te King. Eine zeitgemäße Version für westliche Leser von Stephen Mitchell, deutsch Peter Kobbe, Arkana Goldmann 2003, aus Vers 2
Das kann man als abstraktes Wissen aufnehmen – ein Modell, das Wirklichkeit beschreiben soll. Oder man erforscht das „Wie“ an sich selbst, verknüpft Modellwissen mit Erfahrung und gelangt so zu einer wirksamen Erkenntnis. Im bewussten Praktizieren folgen wir dem Prinzip Taiji (Zweiheit in Einheit) auch dadurch, dass wir selbst zwei–in–eins sind: Subjekt und Objekt unserer Forschung, denn der „Gegenstand“ unserer Forschung sind wir selbst als vernetzte körperlich-geistige Einheit. Achtsame und wertfreie Selbstwahrnehmung sind integraler Bestandteil ernsthafter Qigong-Praxis. Praktisches Üben, in dem das Denken schweigt, und Reflektion der Praxis gehören auf einem umfassenden Übungsweg zusammen. Das Prinzip Taiji lässt sich nur verstehen, indem man sein Wirken bewusst erlebt. Qigong ist eine Möglichkeit dazu.
Taiji und die Balance der Gegensätze
Wie das Beispiel des Wasserkreislaufs zeigt, beschreibt Taiji, dass Gegensätze natürlicherweise im Verhältnis wechselseitigen Balancierens zueinander stehen und so ein harmonisches Ganzes bilden. Die TCM beschreibt dementsprechend Krankheit als einen Zustand der Dysbalance zwischen einzelnen Bereichen des Organismus. Das Ziel von Therapie ist, das harmonische Fließgleichgewicht wieder herzustellen. Weil Qigong Übungen diesen Effekt haben, werden sie sowohl zur Krankheitsprävention wie zur Therapie eingesetzt.
Dysbalancierte Zustände sind solche, in denen Yin- und Yang-Aspekte, die im Gleichgewicht sein sollten, im Ungleichgewicht sind: vom einen zu viel (Stau), vom andern zu wenig (Mangel) – und das womöglich über einen längeren Zeitraum. Ein paar Beispiele, welche Dysbalancen allein durch unseren Lebensstil entstehen können:
- Zu viel Aktion – zu wenig Ruhe
- Zu viel Denken – zu wenig Fühlen
- Zu viele geistige – zu wenig körperliche Betätigung
- Zu viel Außenorientierung – zu wenig Selbstwahrnehmung
- Zu viel Ego-Zentriertheit – zu wenig Vernetzung mit anderen und allem
Die Einheit der Zweiheit (Taiji) ist ein Prinzip, das auf vielen Ebenen heilsam wirkt, da es allen Zuständen der Überspannung oder Unterspannung, von Stau oder Mangel natürlich entgegenwirkt. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, dass die Übungen die geistigen, die körperlichen und die energetischen Anteile unseres Organismus gleichermaßen ansprechen und so Impulse zur Harmonisierung aller Ebenen setzen. Vorstellung oder Absicht/Shen (geistige Ebene), Atem/Qi (energetische Ebene) und Bewegung/Jing (körperliche Ebene) werden im Qigong wegen ihrer besonderen Bedeutung im Zusammenspiel die „Drei Schätze“ genannt. Wir können die Beziehungen der Drei Schätze auch als ein Geflecht von Yin-Yang-Paaren denken, die ebenfalls eine ausbalancierte Einheit bilden sollten. Eine gelungene Qigong-Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass alle drei Qualitäten von Einheit realisiert werden.
- die Einheit von Körper und Geist (Körper/Yin – das Erdige, Materielle wird geführt vom Geist/Yang – dem himmlischen, aktiv-lenkenden Prinzip)
- die Einheit von Vorstellung und Bewegung (Vorstellung/Yang – ein Aspekt von Shen (oder auch Yi: Intention) geht der Bewegung/Yin voraus, ist also auch hier der aktiv-führende Aspekt)
- die Einheit von Atem und Bewegung (Ein Lehrsatz im Qigong lautet „Yi lenkt Qi, Qi bewegt den Körper“. Damit wird in dieser Paarung Qi/Yang die Führungsrolle zugeschrieben und Bewegung/Yin ist das, was folgt.)
Taiji ist ein Prinzip, das Beziehungen abbildet und erläutert. Auch wenn man lange Tabellen aufstellen kann (solche lassen sich in allen Publikationen zum Taiji finden), wo Phänomene auf der Yin- und der Yang-Seite der Tabelle eingeordnet werden, muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen: Es handelt sich nicht um feste Zuschreibungen. Sondern die Zuordnung zum Yin- bzw. Yang-Aspekt dient dazu, ein besseres Verständnis der Beziehung, in der zwei Phänomene unter einem gewissen Blickwinkel zueinander stehen, zu erlangen. Das Prinzip Taiji ist ein Instrument, das Leben zu erforschen und zu verstehen.
Wie kann ich Taiji in der Qigong-Praxis erfahren?
Zwei Yin-Yang-Paare sind zentral in der Qigong-Praxis und in der körperlichen Übung deutlich erfahrbar:
Steigen und Sinken:
- Äußerlich beschreibt dies Bewegungen, die nach oben gehen, wie steigende Arme, sich streckende Beine, bzw. nach unten gehen, wie sinkende Arme, sich beugende Beine etc.
- Innerlich und subtiler ausgeführt handelt es sich um Bewegungen, die mit wohldosierter Anspannung gegen die Schwerkraft wirken (Steigen) und durch Entspannung mühelos mit der Schwerkraft fließen (Sinken)
- Energetisch findet sich Steigen und Sinken zum Beispiel in der Erfahrung der Aufrichtung zwischen Himmel (Yang) und Erde (Yin) als ein Durchströmtwerden von den polaren Kräften.
Öffnen und Schließen:
- Äußerlich beschreibt dies Bewegungen, in denen der Körper sich vom Zentrum aus in alle Richtungen ausdehnt und sich Richtung Zentrum wieder zusammenzieht
- Innerlich wird der Qi-Strom vom Zentrum des Körpers (Dantian) in die Extremitäten geleitet (von innen nach außen) – und retour.
- Auch alle pulsierenden Funktionen des Körpers kann man unter dem Blickwinkel von Öffnen und Schließen beobachten: Atmung, Herzschlag etc.
- Auf energetischer Ebene kann dies Pulsieren ebenfalls vielfältig wahrgenommen werden: als Öffnen und Schließen der Akupunkturpunkte, der Energiezentren (Dantian) oder im Austausch des Körpers mit dem Qi-Feld der Umgebung.
Der Organismus als Gesamtheit weist in jedem Augenblick eine unendliche Fülle an solchen Taiji (Yin/Yang)-Bezügen auf. Die genannten Beispiele machen deutlich, dass das Prinzip Taiji im Qigong-Üben einen Fokus bilden kann, um wahrzunehmen, wie lebendige Abläufe funktionieren und um uns darin einzuüben, uns entsprechend dieser Gesetzmäßigkeit zu verhalten und eventuelle Dysbalancen zu vermeiden oder auszugleichen. Denn das Ziel der Praxis ist, dass der Mensch in eine bestmögliche Balance finden kann, in sich selbst und in Wechselwirkung mit allem, was ihn umgibt – auf körperlicher, geistiger und energetischer Ebene.
Veranstaltungstipp zum Thema taiji
Das 2. Taiji Forum vom 8. bis 10.September 2017 ist offen für alle Stile, für Neugierige, AnfängerInnen, Fortgeschrittene.
Für Unterrichtende bietet es die Möglichkeit zur Fortbildung und zum persönlichen Austausch mit KollegInnen aus anderen Bereichen der chinesischen Künste.
Das 2. Taiji Forum Austauschtreffen wird im Gegensatz zum Taiji Forum 2016 international, sprich englischsprachig sein. Im November 2016 werten wir die Rückläufe des Unterstützungsaufrufs aus und gehen in die konkrete Planungsphase. weiterlesen
Autorin: Dietlind Zimmermann
www.taiji-lebenskunst.de, www.bewegte-philosophie.de
Fotos: Taiji Forum