Ich stehe wieder einmal vor einer unbekannten Tür. Dahinter kann alles liegen. Eine modern ausgestattete Sporthalle, eine traditionell eingerichtete Halle mit kleinem Altar und Räucherstäbchenduft, ein Allzweckraum, der auch von Tanz- und Rehagruppen mit verwendet wird – oder ich stehe vor einer dieser vielen Schulsporthallen, die neben der Unterrichtszeit auch für Vereine offen stehen. Hinter der Tür warten Menschen, die ich vielleicht noch nie gesehen habe und Dinge, die mir eventuell ganz neu sind – oder Dinge, die Sachen, die mir vertraut sind einen neuen Geschmack verleihen können. Ich denke, ich bin ein Glückspilz, denn bisher sind die Menschen auf der anderen Seite all dieser Türen nett gewesen, offen für Neues, offen für Fragen – und beinahe so neugierig wie ich. Und bei jedem Einzelnen habe ich etwas dazugelernt.
Wenn man dem Film „Fearless“ glauben möchte – und so oft, wie sich Details von Kungfu-Entstehungslegenden verändern, je nachdem, was der jeweilige Erzählende einem gerade genau demonstrieren möchte, ist er ein genauso gute historische Quelle, wie vieles anderes – war Huo Yuanji, der Held der Geschichte, immer bereit, von seinen Kampfgegnern zu lernen, wie man insbesondere in seinem Verhältnis mit seinem letzten Frenemy sehen kann. Und die Kungfu-Gemeinschaft, die in diesem Film gegründet wird, hat als einen ihrer Grundsätze, sich zu freundschaftlichen Kämpfen zu treffen. Und vor allen Dingen zu gemeinsamen Training mit gegenseitigem Austausch. Ein erstaunlich friedfertiger Gedanke für Menschen, die ihre Zeit damit verbringen zu lernen, wie man andere Körper demontiert. Aber, wie die meisten von Euch wissen, kann man mit dem gleichen Wissen auch heilsam tätig sein. Das steht ja gerade bei vielen der Praktizierenden der inneren Kampfkünste im Vordergrund.
Offenheit und Natürlichkeit – Shoshin und Ziran
Um aus dieser Grundidee das Meiste heraus zu holen ist sehr viel Offenheit notwendig. Wenn ich in eine mir fremde Schule gehe, um dort etwas Neues zu lernen und ich bin absolut vom Wert meiner eigenen Kampfkunst – und ganz besonders von ihrer Überlegenheit – überzeugt, dann dürfte ich eher dazu neigen, etwas , das dem bisher von mir Gelernten zu widersprechen scheint, als minderwertig oder fehlerhaft anzusehen. Im Sinne einer daoistischen Grundhaltung, nach der die Kategorisierung von Dingen als gut oder schlecht bereits einen ersten grundlegenden Fehler darstellt, wäre dies einer der wenigen Fehler, die man tatsächlich machen kann. Das schönste Beispiel für eine solche offene Haltung ist Po. Der Kungfu-Panda begegnet jeder neuen Kampftechnik mit offenem und tiefgreifendem Staunen und das sogar in dem Moment, in dem er gerade in schmerzhafter Art und Weise ihr Opfer wird. Und so lernt er wirklich erstaunlich viel und kann als Drachenkrieger (den man ja der Erde zuordnen kann und der damit die Wirkungen aller anderen Elemente auf sich vereint) so jedes Wissen in sich aufnehmen. Genau wie als Esser jede Art von Speise in großen Mengen – wie ich das auch in der Regel bei gemeinsamen Mahlzeiten mit den Menschen erlebe, mit denen ich zuvor in ihren Schulen gestanden habe, um etwas von ihnen zu lernen.
Im Japanischen nennt man eine solche Grundhaltung „Shoshin“, den „Geist des Anfängers“ und das ist sicherlich etwas, dem man nachstreben kann, wenn man das als den eigenen Weg in den Kampfkünsten sehen will. Heero Miketta und einige andere haben vor einigen Jahren eine Gruppe mit diesem Namen gegründet, die sich auf die Fahne geschrieben hatte, genau diese Art von Denken zu kultivieren und Kampfkünstler aus ganz unterschiedlichen Richtungen zusammen zu bringen, zum gemeinsamen Lernen (und natürlich auch zu gemeinsamen Essen). Daraus sind verschiedene Unterabteilungen entstanden, wie „Missing Link“, das untersucht, wie die Techniken des Shotokan aus denen des traditionellen Kungfu – und hier insbesondere der Wudangpai – entstanden sind und auch, wie dieses Wissen das Unterrichten und Verstehen des Karate vertiefen kann. In Manchester, Dortmund und Ratingen kann man sehen, wozu dies führt und die Treffen und Seminare dieser Menschen sind immer wieder eine kampfkünstlerische und menschliche Freude.
In den Niederlanden gibt es um das Stichting TaiJi/Jianfa und das Silk Road-Dojo eine Gruppe von gleichfalls sehr netten Menschen, die immer wieder auch Ausstehende zu ihren Workshops einladen, oder bereit sind, als Unterrichtende oder Lernende diese auch im Ausland zu besuchen. Bei diesen Treffen wird jeder Gast gebeten, eine Basis-Übung oder eine Aufwärmübung aus der eigenen Tradition für die ganze Gruppe anzuleiten, so dass man zumindest mit einigen neuen Grundübungen nach Hause fahren kann, am Ende eines meist sowieso schon sehr gehaltvollen Trainingstages. Und auf Treffen, wie etwa dem Neujahrspushen in Siegburg, dem Taiji-Forum und dem Pushhands-Treffen bei Nils Klug in Hannover findet man auch immer diesen offenen Geist der Unterrichtenden und der Lernenden. Und auch im Bereich der Meditationsunterrichtung und der traditionell chinesischen und japanischen Heilkünste und des Ayurveda findet man immer wieder Menschen, die eine solche Offenheit und Neugierde gegenüber den anderen Künsten aufbringen und die bereit sind, ihr Wissen zu teilen und von denen, die sie unterrichten auch neue Impulse aufzunehmen.
Blick zurück auf den eigenen – europäischen – Bauchnabel
Die Beschäftigung mit den Kampfkünsten hat in den letzten zwei Jahrzehnten aber auch einige sehr neugierige Menschen dazu gebracht, sich nicht nur die asiatischen Kampfkünste anzusehen, sondern auch die europäischen, die ja – zumindest im Schriftlichen – noch eine längere Tradition haben. Sie haben mit dem gleichen offenen Geist begonnen, sich in die historischen Quellen und Handbücher einzulesen, sie haben zum Teil in sehr großem Umfang damit begonnen, mit Techniken, Materialien, Waffenmodellen und Rüstungselementen zu experimentieren und dabei überaus überraschende Entdeckungen gemacht. Und sie haben sich ausgetauscht über die verschiedenen Jahrhunderte, die Länderstile und viele andere Dinge. Da viele von ihnen aus den asiatischen Kampfkunsttraditionen gekommen sind, haben sie sich in den jeweiligen Rüstungen mit Schaukampf-Katanas und Schaukampf-Bastardsschwertern voreinander gestellt und freundschaftlich miteinander gefochten und so manche Vorurteile über angenommene Überlegenheiten der einen Waffe oder des anderen Stils zumindest variieren können. „Man kann mit einer Sai-Gabel den Angriff einer Katana nicht abwehren“ erscheint zweifelhaft, wenn man gesehen hat, wie hintereinander zwanzig Angriffe mit einem Bastardschwert oder einem Bihänder abgeleitet worden sind, bevor die zweite Gabel irgendwo unangenehm auf einem Gambeson gelandet ist. Katanas sind in der Regel ein wenig leichter und auch brüchiger als die modernen Schaukampfwaffen – und nicht wirklich schneller. Und so hat der Gedanke der Offenheit, des lebenslangen Lernens und die Frage „Wäre es nicht interessant …?“ die mittlerweile weltweite Gemeinde der HEMA (Historical European Martial Arts) begründet und ausgeweitet. Und diese ist immer wieder bereit, zu ihren jeweiligen persönlichen Ursprüngen zurück zu geben und so den Austausch noch zu erweitern. Ein Austausch, den das Internet explosiv voran getrieben hat.
In den inneren Kampfkünsten ist es eines der Ziele, in seinen Bewegungen so natürlich wie möglich zu sein, den Zustand von Ziran (Natürlichkeit) in der absichtslosen Handlung (Wuwei) zu erreichen. Oder, wie Meister Shifu in „Kungfu Panda“ angestrengt intoniert „Innerer Friede …. Innerer Friede … INNERER FRIEDE“. Na ja, auch er lernt halt noch. Und macht am Ende Po zu seinem Lehrer. Und dann gehen sie – natürlich – zusammen essen.
Gemeinschaft, Freundschaft und Frieden durch Kampfkunst – ein großer Auftrag
In „Fearless“ ist der Zweck der Vereinigung der friedliche Austausch. Die Lehrer, die ich in Wudang kennen gelernt habe, die die ich hier getroffen habe und solche Autoritäten wie Wang Liping, der Meister der Longmen Pai, sagen seit vielen Jahrzehnten, dass die meditativen, restorativen Elemente unserer Kampfkünste aus den versteckten kleinen Schulen und Klöstern heraus kommen sollen um sich in der Welt zu verbreiten und so eine Gemeinschaft der friedfertig Wirkenden zu schaffen. Sei es durch Treffen und/oder beim Longmen Pai etwa, durch gemeinsames Meditieren zu bestimmten Uhrzeiten in der eigenen häuslichen Umgebung. Tausende von Menschen in der ganzen Welt, die sich zur gleichen Zeit auf ihre Meditationskissen setzen und gemeinsam versuchen, soviel positive und restorative Energie wie möglich zu schaffen. Ein hehres Ziel fürwahr.
Aber schon die freundschaftliche und offene Atmosphäre der Menschen untereinander, die ich das Glück habe, immer wieder auf meinem Weg durch die Kampfkünste zu treffen, die Gespräche, die gegenseitigen Massagen, das Kennenlernen von anderen Hobbies und Interessen, die diese Leute neben ihren Kampfkünsten noch haben, die vielen, vielen leckeren Mahlzeiten – noch etwas, worin uns „Kungfu Panda“ die Kampfkunstwelt zeigt, wie sie ja eigentlich wirklich ist -, die Teerunden, das gemeinsame Feiern und Gucken von Filmen auf Leinwänden, Wänden oder aufgespannten Bettlaken in Dojos, Wuguans oder Sporthallen, ach ja, und auch das gemeinsame Singen (Danke, Tian Liyang) – all diese gar nicht so global umfassenden, aber absichtslosen und natürlichen Akte der Freundlichkeit, Offenheit und Großzügigkeit – haben mein Leben bereichert. Die – meist periphäre – Beteiligung an Projekten, die Menschen in dieser Form zusammen bringen und das Zusammenbringen von Menschen an sich fördern, ohne einen politischen oder ideologischen Auftrag (gewissermaßen Wuwei), einfach aus dem Gedanken und dem natürlichen Gefühl (Ziran) heraus, damit etwas Richtiges zu tun, ist sicherlich eine der wichtigsten Komponenten der Kampfkünste in unserer Zeit, in der Frieden in allen Dingen eines der wichtigsten Ziele überhaupt geworden ist.
Autor: Klaus-Günther Beck-Ewerhardy
(1968) trainiert Kampfkunst seit seinem siebten Lebensjahr (Judo, Ji Jitsu, Shaolin Kempo, Kendo, Aikido, Ving Chun, NMinjutsu, Sh’an Shaolim Si Tao, Wudan Pai, HEMA usw,). 2006 fand er im Tao Chi Duisburg (Horst Kuhl) seine persönliche Heimat in der Wudang Pai, die er seit 2009 schwerpunktmäßig im Wuguan in Mülheim an der Ruhr (Jo Augustin) studiert und Wudang Jian, das er im Gecko in Hattingen (Birgit Mittag) lernt und pflegt. Er ist zertifizierter Bonsia-Kinderkampfkunstlehrer (Shoshin) und unterrichet von Zeit zu Zeit seine Kollegen und seine Schüler einer öffentlichen Schule in Duisburg. Zusammen mit seiner Frau und einigen anderen Mitstreitern hat er einige Kurzgeschichten für die Trainingshilfe „Kinderkampfkunstgeschichten“ geschrieben, die von Heero Miketta herausgegeben worden ist.
Fotos: Klaus-Günther Beck-Ewerhardy
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