Typgerechtes Trainieren

Der Bewegungswiderstand als Schlüssel zur typgerechten Bewegung

Von Dieter Mayer

Haben Sie schon einmal versucht, einem Physiotherapeuten oder einem Sportler die Feinheiten des Qigong oder Taiji zu „seinen“ Bedingungen und in „seiner“ Logik zu erklären? Waren Sie in dem Gespräch klar und kompetent oder sind Sie eher ins schwimmen geraten? Falls Sie Verständigungsprobleme hatten, wäre das nur natürlich. Denn die Traditionelle Chinesische Medizin und die westliche Trainingslehre sprechen unterschiedliche Sprachen.

Die einen sprechen von Qi, Meridianen, Polaritäten, Elementen und Wu-Wei, während die anderen über Bewegungsmotorik, Haltungsaufbau und Trainingssteuerung referieren. Das führt in der Praxis dazu, dass all zu oft Begrifflichkeiten durcheinander purzeln und Äpfel mit Birnen, bzw. Qi mit Muskelkraft verglichen wird.

Die Sprachverwirrung begleitet mich schon seit 1992. Im ASS-Institut für Taijiquan und Qigong ist es meine Aufgabe, die Anatomie- und Bewegungslehre angehenden KursleiterInnen praxisnah zu vermitteln. Im Kontakt mit Ärzten, Psychologen, Krankengymnasten, Sportlehrern usw. wurden mir immer wieder meine Grenzen aufgezeigt. Oftmals habe ich mich dabei ertappt, wie ich in heiklen Momenten ausgewichen bin und meine mangelnde Kompetenz überspielt habe. Nach vielen Jahren des Suchens und Forschens habe ich mich dann zu einem radikalen Schritt entschlossen und habe angefangen, eine Bewegungslehre nach den fünf Elementen zu formulieren.

Die Bewegungslehre nach den fünf Elementen stützt sich auf die zyklisch- funktionalen Ordnungsmodelle der Traditionellen Chinesischen Medizin. Und doch bleibt sie ganz in den Begrifflichkeiten und der Sprache der westlichen Trainingslehre. Es war ein Geduldsspiel die menschlichen Bewegungsmuster mit den fünf Wandlungsphasen zu erfassen und die anatomischen Funktionszusammenhänge den einzelnen Elementen präzise zuzuordnen. Obwohl ich mich dazu erst einmal weit von der Tradition wegbewegt habe, hat mich am Schluss doch sehr beeindruckt, wie viele Parallelen sich zur Chinesischen Medizin im Laufe der Zeit ganz von selbst ergeben haben.

Der Bewegungswiderstand als Schlüssel zum Power-Response-Zyklus und zur Typenlehre nach den Fünf Elementen

Viele Taiji- und Qigong-Übende wünschen sich Leichtigkeit, Gesundheit und Lebendigkeit. Der Weg dahin ist aber dann oft nicht so leicht, wie zuerst gedacht. Immer wieder treffen sie auf Widerstände. Da gibt es den Widerstand des Übe-Partners, eigene Lernwiderstände und nicht zuletzt den Widerstand des Bodens unter den Füßen. Es bringt wenig, sich über Widerstände aufzuregen. Viel besser ist es, sich mit ihnen auseinander zu setzen und an ihnen zu wachsen. Für mich war der Widerstand meiner Trainingspartner im Taiji und Kung Fu der Schlüssel zum Verständnis des Power- Response-Zyklus. Der Power-Response- Zyklus beschreibt die Bewegungsphasen, die unser Körper durchlaufen muss, wenn er einen Widerstand überwinden möchte. In jeder Phase des Zyklus über- nimmt der Widerstand eine andere Funktion und verlangt ein „phasengerechtes“ Verhalten.

Grafik: Power-Response-Zyklus und zur Typenlehre nach den Fünf Elementen

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In der Wasserphase geht es um Kontaktaufnahme, Stabilisierung und Ausrichtung am Widerstand. Ist der Körper ausgerichtet, kann er sich in der Holzphase durch eine Gegenbewegung gegen den Widerstand stemmen und Kraft aufbauen. In der Feuerphase wird die gespeicherte Kraft durch einen reaktionsschnell ausgelösten Bewegungsimpuls freigesetzt. Die freigesetzte Bewegungsenergie wird in der Metallphase dann für eine zielgerichtete Überwindung des Widerstandes genutzt. Die vier Bewegungsphasen kreisen um die Erde. Die Erde steht für die Bewahrung der Balance und wird durch die Körpermasse repräsentiert.

Um die einzelnen Bewegungsphasen nicht nur anatomisch-funktional zu charakterisieren, habe ich die Typenlehre nach den Fünf Elementen mit der Darstellung des Power-Response-Zyklus verbunden und jeder Phase ihren Bewegungstyp zugeordnet. Die lebensnahe Beschreibung des Bewegungsverhaltens der fünf Typen „vermenschlicht“ die Bewegungsmechanik und verknüpft den ganzheitlichen Ansatz der Traditionellen Chinesischen Medizin mit dem Funktionsverständnis der westlichen Trainingslehre.

Für eine kraftvolle Bewegung ist es nötig, dass wir alle fünf Bewegungstypen repräsentieren können. Das heißt, dass wir uns als Philosoph stabilisieren und neu ausrichten, uns als Kämpfer gegen den Widerstand stemmen, als Spieler einen Bewegungsimpuls freisetzen und uns als Stratege zielgerichtet fortbewegen. Die ganze Zeit müssen wir als Vermittler über das Gleichgewicht und das freie „Schwingen“ der Körpermasse wachen.

Das Potential der Bewegungslehre nach den Fünf Elementen

Je nachdem was, wie und mit welcher Intention Sie Qigong oder Taiji üben, kann Ihnen die Bewegungslehre nach den Fünf Elementen viel bieten. Sie können zum Beispiel anhand Ihres individuellen Bewegungsverhaltens in den verschiedenen Phasen erkennen, wie stark Sie die einzelnen Typen repräsentieren und wie Ihr persönliches Fünf Elemente Muster gestrickt ist. Dann können Sie über den Focus auf die entsprechenden Bewegungsphasen schwache Persönlichkeitsanteile stärken und so die Dominanz Ihres Grundtyps immer wieder ausgleichen. Dadurch kommen Sie Bewegungseinschränkungen und Überlastungsschmerzen auf die Spur und betreiben Ursachenforschung anstatt Symptombekämpfung.

Wenn Sie sich zum Beispiel impulsiv bewegen und sich spontan jedem Widerstand in den Weg stellen, deutet das darauf hin, dass Sie einen starken Kämpfer in sich tragen. Das ist im Prinzip gut, kann aber auch dazu führen, dass Sie sich überfordern und Ihre Bemühungen nicht zum gewünschten Erfolg führen. Die Bewegungslehre nach den Fünf Elementen zeigt Ihnen, wie Sie typgerecht trainieren und Ihr Training an Ihre Bedürfnisse an- passen können. In dem Sie zum Beispiel als Kämpfer Verantwortung für den Strategen übernehmen und ihm mit einer zielgerichteten Gegenbewegung das Feld bereiten, werden Sie viel mehr erreichen und sich kraftsparend und effektiv bewegen. Typgerechtes Training macht es Ihnen viel leichter einzelne Funktions- kreise gezielt zu stärken, den Qi-Fluss auf den Meridianen zu fördern oder zu lernen, Ihren Übepartner durch den Power-Response-Zyklus zu leiten bzw. ihn bei Bedarf auch einmal durch die Luft fliegen zu lassen.

Wertvolle Argumentationshilfe im Umgang mit Krankenkassen, Bildungsträgern und Sportverbänden

Als Qigong und Taiji-Übende haben wir die positiven Wirkungen des Trainings am eigenen Leibe erfahren und brauchen von der Wirksamkeit der „alten“ Künste nicht mehr überzeugt werden. Aber gegenüber Vertretern der Krankenkassen, der Berufsverbände, der Sportbünde und der öffentlichen Bildungsträger müssen wir unser Vorgehen immer wieder rechfertigen und gut begründen. Nur dann werden Kosten übernommen oder der Zugang zu interessanten Arbeitsfeldern gewährt. Gerade ringt der Deutsche Dachverband für Qigong und Taiji DDQT darum, das Berufsbild Qigong- und Taiji-Lehrer in unserer Bildungslandschaft zu verankern. Dabei stößt er immer wieder auf Skepsis, Unwissen und einen hohen Qualifizierungsdruck. In der Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit kann die Bewegungslehre nach den Fünf Elementen wertvolle Argumentationshilfen bieten.

Sie ist systemisch begründet und kann deshalb die Kompetenz und Nützlichkeit unserer Übeverfahren gegenüber dem schnell wachsenden Arbeitsfeld der Systemischen Therapie bzw. des Coaching überzeugend herausstellen. Im Bereich des Sportes und der allgemeinen Gesundheitspflege zeigt sie, wie sich ein professioneller Leistungsanspruch mit Nachhaltigkeit und Gesundheitspflege verbinden lässt. Intern erlaubt sie, uns auf einer handwerklichen Ebene stilübergreifend zu vernetzen und unserem Nachwuchs eine Anatomie- und Bewegungslehre zu bieten, die sich eins zu eins in der Trainingshalle umsetzen lässt.

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Über den Autor:

DieterMayerDieter Mayer ist Kampfkünstler und Bewegungslehrer. In seinem DAO-Center Landsberg am Lech unterrichtet er Qigong, Taijiquan, Wing Chun Kung Fu und Escrima. Er ist Gründungsmitglied des ASS-Institut und engagiert sich als Vorstandsmitglied im Deutschen Dachverband für Qigong und Taijiquan – DDQT.

 

Grafiken und Bilder: Dieter Mayer
Erschienen im Netzwerkmagazin · 2010