Sizheng Siyu

Die Theorie der vier Geraden und vier Diagonalen

Die acht Grundenergien bilden zusammen mit den fünf Schrittrichtungen die 13 grundlegenden Bewegungsarten des Taijiquan. Sam Masich betont, dass es von weitreichender Bedeutung sei, die vier den Kardinalrichtungen zugeordneten „geraden“ Kräfte von den vier den Zwischenrichtungen zugeordneten „diagonalen“ Kräften zu unterscheiden. Während die ersteren ein ruhiges, gelassenes, aufrichtiges Vorgehen im Tuishou fördern und neben dem kämpferischen auch einen spirituellen Fortschritt ermöglichen, sieht er bei der zweiten Gruppe die Gefahr, dass ihr übermäßiger Einsatz nur kurzfristig einen scheinbaren Vorteil verschafft, auf lange Sicht jedoch den Fortschritt verhindert und die Entwicklung der Persönlichkeit in eine ungünstige Richtung lenkt. Immer geht es darum, sich an den Taiji-Prinzipien zu orientieren, sonst gerät die eigene Praxis zu „Buzheng“, etwa durch unbedingtes Gewinnenwollen und Egozentriertheit, und eine Entwicklung im Sinne von Taijiquan wird unmöglich.

8Trigramme
Die Theorie der vier Geraden und vier Diagonalen

Kein Bereich ist grundlegender für ein Verständnis des Taijiquan als die Theorie der vier Geraden und vier Diagonalen. Die Essenz dieser Kunst, ja sogar ihr eigentlicher Daseinsgrund sind vollständig eingebunden in der Theorie, der Funktion und der Philosophie dessen, was im Chinesischen mit Sizheng Siyu bezeichnet wird.

Von früheren Meistern wurde gesagt: „Ohne ein Verständnis der dreizehn Kräfte kann man seine Kunst nicht wirklich Taijiquan nennen.” Der gesamte Unterbau des Modells der dreizehn Kräfte gründet sich auf die Beziehung zwischen den vier Geraden und den vier Diagonalen, die gemeinhin als die Bamen oder Acht Tore bezeichnet werden. Eine der einleitenden Aussagen in den „40 Kapiteln der Yang-Familie“ liest sich folgendermaßen:

„Es ist unerlässlich, die Sizheng und die Siyu zu verstehen. Die Techniken der vier Geraden sind Peng, Lü, Ji, An; die Techniken der vier Ecken sind Cai, Lie, Zhou, Kao.“ Die Beziehung zwischen diesen beiden elementaren Archetypen von Kraft zu verstehen ist entscheidend, um den Zweck des Taijiquan zu begreifen und um die unermessliche Menge an Methoden, Techniken und stilistischer Variationen einzuschätzen und in Einklang zu bringen – sogar seine Geschichte. Hat man erst die Voraussetzungen von dem, was man die „Vier-Vier-Theorie“ nennen könnte, verstanden, können selbst Bereiche, die außerhalb des eigentlichen Gebietes des Taijiquan liegen, einer grundsätzlichen abstrakten Analyse erschlossen werden. Eine sehr oberflächliche Zusammenfassung der Sizheng-Siyu- Theorie könnte folgendermaßen lauten: „Wenn sie richtig entwickelt und effektiv angewandt werden, ist der Gebrauch der Sizheng den Siyu vorzuziehen. Wenn die Sizheng nicht effektiv oder nicht ausreichend sind, setze die Siyu ein.“ Diese einfache Aussage skizziert einen Grundsatz der Kampfkünste, der mit einer theoretisch überlegenen Kampfstrategie zusammenhängt. Aber sie hat viel weitreichendere Bedeutungen. Die Idee, die in diesen wenigenWorten skizziert wird, kann auf jede Art der Interaktion angewendet werden, ob es dabei um einen Konflikt geht oder nicht, darauf wie Ereignisse verstanden und erlebt werden und sogar auf spirituelle Verwandlung. Sie verweist auf etwas in der großen und universellen Geschichte der Menschheit und der Natur des Universums, in der sich diese Geschichte entfaltet. Sie beinhaltet auch die Selbstkultivierung und die Konsequenzen, die entstehen, wenn man einen unbedeutenderen Weg geht.

„Si“, die Zahl Vier, und „Ba“, die Zahl Acht, sind vielfältig verwoben mit dem chinesischen Symbolismus. Vier ist eine Zahl, die offenkundig mit Richtung verbunden ist. Die Vorstellung, dass die vier Hauptrichtungen – Norden, Süden, Osten, Westen – mit den vier Geraden und die vier diagonalen Richtungen – Nordost, Nordwest, Südost, Südwest – mit den vier Ecken verbunden sind, verstärkt das Gefühl von ursprünglicher Bedeutung.

Während die Zahl Vier für sich allein Unglück bedeuten kann, wird die Zahl Acht als überaus glückverheißend angesehen. Die Idee von zwei Komponenten aus vier, die als Einheit zusammenarbeiten, bedeutet, dass Glück schlechtes Schicksal überwindet. Die dreizehn Kräfte werden beispielsweise fast immer als die fünf Schritte und die acht Tore dargestellt und nie als die fünf Schritte, die vier Geraden und die vier Ecken. Möglicherweise liegt einer der Gründe, warum so wenig über sie diskutiert wird, in diesem Aberglauben. Doch egal, ob hier der Grund dafür liegt, dass die Sizheng und die Siyu im Allgemeinen zu undifferenzierten Gruppen von acht oder dreizehn zusammengeworfen werden, ist es wichtig sie zu entwirren, damit sie in einer sinnvollen Weise neu geordnet werden können.

Sizheng

Beim Erlernen von Push-Hands führen alle Wege zum Studium des „Sizheng Tuishou“, der einen allerwichtigsten technischen Übung dieser Kunst. In einer perfekten Welt – zumindest aus Sicht eines Kampfkünstlers – würden wir nie die vier Diagonalen benötigen. Unser Peng wäre perfekt und unser Ji würde uns aus allen Schwierigkeiten heraushalten. Wir würden perfekt an unseren Gegnern „kleben“ und unvergleichliche Meister sein.

Sizheng Tuishou, auch bekannt als „four-hands“, ist eine Partnerübung, die im Wesentlichen aus den vier geraden Basisenergien zusammengesetzt ist: Peng, Lü, Ji und An. Sie ist benannt nach dem Konzept, das ihrer Existenz den Zweck verleiht. Zheng als eine Qualität sollte die Vier-Hand-Übung sowohl in Bezug auf die Methode als auch auf ihre Ziele hin durchdringen. Wenn das Konzept von Zheng durchgängig im Herzen des Übens zum Ausdruck kommt, besteht die Möglichkeit, es allmählich zu beherrschen. Auf einer Stufe macht die Hingabe an das Ideal von Zheng fortgeschrittene Ebenen von „klebender Energie” erreichbar, Qualitäten, die hohe kämpferische Fähigkeiten versprechen. Aber Zheng als Übungsstandard bringt etwas anderes mit sich, nämlich einen ethischen Bezugsrahmen, um kämpferische Verwegenheit zu mildern.

Was ist also Zheng? Das Wort Zheng als Adjektiv bedeutet „gerade“, „aufrecht“, „korrekt“, „ehrlich“, „orthodox“. Als Verb bedeutet es „berichtigen“, „richtig stellen“, „korrigieren“. Der Begriff beinhaltet Anstand, Tugendhaftigkeit, Geradheit und Rechtschaffenheit. Sein wörtliches Gegenteil „Buzheng“ bedeutet „schief“, „krumm“, „verschlagen“, „fehlende Rechtschaffenheit“, „ungehörig“, „unmoralisch“, „rechtswidrig“. Fangzheng, das „quadratisch“

oder „geradeheraus“ bedeutet, ist eine aus Dutzenden von Wortkombinationen, in denen Zheng den Eindruck von physischer oder moralischer Richtigkeit und Geradheit vermittelt. Zhengdao und Zhengde – dieselben Begriffe wie im Daodejing – bedeuten „der richtige Weg“ und „Tugend“. Zweifellos ist die Assoziation des Begriffs mit den hohen Prinzipien des Übens beabsichtigt. Zheng impliziert nicht nur, dass die Art, Kraft auszuüben, klar und direkt sein soll, sondern auch, dass die Technik von einem moralischen Kompass geleitet werden soll. Dass der Weg zur Beherrschung der körperlichen Fähigkeiten auch in Richtung inneres Erwachen führen soll, kommt im Taijiquan Lun zum Ausdruck: „Wenn die Bewegung des Gegners schnell ist, dann bin ich schnell. Wenn die Bewegung des Gegners langsam ist, dann folge ich langsam. Auch wenn die Variationen unendlich sind, bleibt das Prinzip dasselbe. Im Beherrschen der Bewegungen erreicht man allmählich ‚Dongjin’. Vom Erreichen des Dongjin kann man Shenming erlangen. Ohne langes, beharrliches und ausdauerndes Üben kann man nicht verstehen.“ Zhannian Jin, die subtile Energie, die durch die Sizheng-Praxis gewonnen wird, lässt eine perfekte Verbindung mit einem Gegner oder Partner und eine feine Beherrschung der Bewegungen entstehen, was den Übenden zu Selbsterkenntnis (Dongjin) und Erleuchtung (Shenming) führt. Zusammengenommen erwecken die Worte Si und Zheng ein elegantes und hochgesinntes Bild von vier edlen, anständigen, aufrechten und ehrlichen Qualitäten. Wenn er beim Üben oder Nachforschen auf die vier geraden Energien trifft, wird der scharfsichtige Übende auf die feinen Unterschiede in der Vorstellung von Zheng achten und entdeckt: Geradheit innerhalb des runden Peng, ehrliches Annehmen im Lü, ein Mittel gegen Abweichungen im Ji sowie Offenheit und Direktheit im An. Zheng zeigt sich unterschiedlich entsprechend der Form, der Bedingungen, der

Struktur oder der Situation, durch die es verkörpert wird, aber es bedeutet immer dasselbe. Was das ist, ist die Lehre für jeden Taijiquan-Spieler.

Siyu

Weitaus später im Taijiquan-Lehrplan stoßen Übende auf eine der ausgezeichnetsten und am meisten herausfordernden Push- Hands-Übungen: das Dalü, das „Große Zurückrollen“. Obwohl es häufig überstilisiert wird, manchmal fast bis zur Parodie, ist Dalü eine genaue Studie der vier diagonalen Energien und, genau genommen, eine erweiterte Variation der „Vier Hände“.

Die vier Yu – Cai, Lie, Zhou und Kao – erfüllen eine Reihe von wichtigen, jedoch untergeordneten, darin aber potenziell entscheidenden Funktionen in der Theorie der dreizehn Kräfte. Sie sind wie eine Reservearmee, die für unvorhergesehene oder überwältigende Eventualitäten ausgebildet wurde; sie

steht bereit, um in den Kampf zu ziehen, aber nur, wenn die Notwendigkeit eintritt. Dies ist in den 40 Kapiteln der Yang-Familie angegeben: „Wenn wir nicht im Stande sind, die vier geraden Techniken vernünftig auszuführen, treten Fehler in Bezug auf Leichtigkeit, Schwere, Schweben und Sinken auf und die Siyu werden benötigt.“

Ohne die Verbindung mit Zheng sind sie roh, rücksichtslos, vom Zwang angetriebenes Verlangen, dem Höflichkeit oder ein vernünftiger Bezugsrahmen fehlen. In enger Beziehung zu Zheng sind sie jedoch heldenhaft in ihrem Potenzial. Die Schriften der Yang-Familie fügen hinzu: „Übende mit fehlerhafter Technik haben keine andere Wahl, als dies durch den Einsatz der diagonalen Techniken auszugleichen und damit zu versuchen, zu angemessener Rundheit und Geradheit zurückzukommen. Auch wenn Übende auf dem untersten Niveau auf Ellbogen- und Schulterstoß zurückgreifen müssen, um ihre Unzulänglichkeiten auszugleichen, müssen sich sogar die fortgeschrittensten Übenden gute Fähigkeiten im Hinunterziehen und im Trennen aneignen, um zu einer angemessenen Form zurückzukehren.“

Das Zeichen „Yu” ist zusammengesetzt aus dem linken Radikal „Fu” für Berg und dem gleichlautenden phonetischen Teil „Yu”, der oft als „Spinnenaffe” definiert und von Ethymologen als Darstellung eines tierischen, dämonischen Gesichts, herabhängender Arme und einem zum Greifen geeigneten Schwanz angesehen wird. Es ist möglich, dass die Wahl von Yu durch frühere Meister auf diesen Zusammenhang zurückgeht, insbesondere wenn man die herausragende Rolle bedenkt, die Cai oder „Reißen“ dabei innehat, die Siyu beim Tuishou ins Spiel zu bringen. Yu bedeutet in seinem allgemeinsten Sinn „Ecke“. Aber es ist möglich innerhalb einer Ecke zu sein oder außerhalb. Yu bedeutet darüber hinaus „Winkel“, „Schlupfwinkel“, „Grenze“ oder „abgelegener Ort“. Es ist verwandt mir Jiao, das ebenfalls „Ecke“ bedeutet. Die Worte Yu und Jiao sind eng verwandt, aber während Jiao sich entweder auf den äußeren Aspekt einer Ecke, die Spitze, bezieht oder „Ecke“ in mathematischen oder geometrischen Begriffen beschreibt, etwa Sanjiao – Dreieck oder Sijiaoxing – Viereck, schließt Yu sowohl die inneren als auch die äußeren Aspekte und die Funktion einer Ecke ein – sowie mehr abstrakte Bedeutungen von Ecke oder eckig wie Erbitterung, die aus Entlegenheit, Beengtheit und Isolation entsteht.

Ebenso wie Zheng Charaktereigenschaften einschließt, die über die rein physische Ebene hinausgehen, transzendiert das Wort Yu in gewisser Weise die Beschreibung einfacher Seitlichkeit und ist verbunden mit Aspekten, die durchaus als emotional und psychologisch beschrieben werden können. Hier in den Ecken besteht ein Gefühl von

Risiko. Welche emotionalen und psychologischen Faktoren kommen ins Spiel, wenn man in die Ecke getrieben wird oder jemand anderen in die Ecke treibt? Im diagonalen Spiel ist das Potenzial, von Aufrichtigkeit, Gemütsruhe und Fairness abzukommen, groß, weil die Emotionen angegriffen werden. Das Bild eines Tieres im Käfig, dass ruhelos von einer Ecke zur anderen auf und ab läuft oder an den Gitterstäben rüttelt, um einen Weg hinaus zu finden, passt zu der Interaktion der Qualitäten von Greifen, Reißen und Stoßen, die in den Energien der Siyu zu finden sind. Diese Energien entstehen aus nicht selbst gewählten Bedingungen, dem Gefühl, gestoßen zu werden, festgenagelt zu sein, instabil oder verwirrt zu sein. Auf kurze Sicht kann durch den Einsatz der Siyu ein gewisser scheinbarer Fortschritt erzielt werden, aber auf lange Sicht beschränken

die „eckigen” Energien, wenn man sich übermäßig auf sie verlässt, den Fortschritt im Taijiquan dramatisch. Wie die beschriebene eingepferchte Kreatur steigern sich Übende häufig in ein endloses Wiederholen der dramatischen und emotionalen Kreise, die durch Cai, Lie, Zhou und Kao ausgelöst werden und ringen mehr mit Problemen, als sie anzupacken und zu transformieren.

Wenn sie richtig entwickelt werden, sind die diagonalen Energien von verbissener Entschiedenheit und können kraftvolle und gefährliche Waffen sein. Jedoch führt ihr Einsatz als Hauptmittel, um eine missliche Situation zu lösen, selbst in Fällen, in denen diese Energien in hohem Grad beherrscht und effektiv angewandt werden, zu einer Eskalation der Auseinandersetzung und provoziert Konflikte. Dies erzeugt zwei unerwünschte Wirkungen: Es ruft einen Teufelskreis aus wilder, aber uninspirierter Interaktion hervor und fördert voreilige Angriffsstrategien – beides im Gegensatz zum Zweck und Geist des Taijiquan. Daher müssen die Siyu durch die Sizheng gemildert werden.

Gegensätze, die sich ergänzen

Gerade Energie bezieht sich von ihrer Natur her auf das Zentrum, indem sie sich dort einrichtet, es unterstützt oder aufrechterhält. Einige Lehrer sind sogar soweit gegangen, Tuishou als „join hands“, die Hände verbinden oder sich die Hände reichen zu übersetzen. Erfolg mit den Sizheng zu haben erfordert und erzeugt Qualitäten wie Kleben, Hören, Verstehen und Aufnehmen – Eigenschaften, die man sich „einverleiben“ muss, damit sie zuverlässig nutzbar sind. Aus diesem Grund haben andere Tuishou als „sensing hands“, spürende Hände, tituliert. Durch die Ausrichtung auf solche antiegoistischen Qualitäten wie Verbinden, Spüren, Unterstützen, Vertrauen und so weiter schafft das Erlernen der vier Geraden direkte und unmittelbare Ergebnisse in Bezug auf die Kultivierung des eigenen Selbst.

Im Gegensatz dazu bringen – sogar definitionsgemäß – seitliche Aktivitäten Bewegungen hervor, die vom Zentrum weg führen: Ziehen, Trennen, Ausdehnen und Lehnen. Die Siyu sind daher durch Energien charakterisiert, die versuchen sich anzuklammern, wiederzuerlangen oder auszugleichen, was verloren ging – Eigenschaften, die entweder in einen guten Zusammenhang gestellt oder sogar überwunden werden müssen, wenn eine sinnvolle Beziehung zum Zentrum aufgebaut werden soll. Als Werkzeug für die persönliche Transformation ist das Erlernen der vier Diagonalen mehr eine Übung in der Regulierung und Sublimierung roher Instinkte – wie man leidenschaftliche Impulse so unter Kontrolle bringt und kanalisiert, dass sie nützlich eingesetzt werden können.

Beide Facetten der Bamen spiegeln Kernpunkte wider, die mit spirituellem Fortschritt und dem Streben nach persönlicher Freiheit zusammenhängen. In vollkommen unterschiedlicher Weise erfordern beide ein Loslassen und besitzen das Potenzial für bemerkenswert beständige Kraft als Konsequenz aus einer solchen Entlastung. Die Sizheng und Siyu fordern die Vorherrschaft des Ego heraus, indem sie Themen wie Entspannung und Anspannung, Vertrauen und Kontrolle, Bewusstsein und Instinkt neu fassen und damit helfen, Kraft im Sinne der Taiji-Werte und der Prinzipien von weicher Kraft neu zu definieren.

Man könnte zu dem Schluss kommen, dass die Siyu im Gegensatz stehen zu den Sizheng. Aber das ist nicht der Fall. Aus rein technischer Sicht sind die vier Diagonalen die Ausdehnungen von latenten diagonalen Aspekten innerhalb der vier Geraden. Zum Beispiel sind Cai und Lie organische Erweiterungen des bereits leicht seitlichen Lü, das selbst aus Peng und An entsteht. Sie repräsentieren eine über die Reichweite der Sizheng hinausgehende Kontinuität und sind, wenn man sie in diesem Zusammenhang betrachtet, direkt mit den Sizheng verbunden als ein gegensätzlicher, aber ergänzender Teil. Sie sind Gegenstücke – Yin und Yang – und soweit es um die Theorie der dreizehn Kräfte geht, unentbehrlich füreinander.

Das Problem ist, dass aufgrund von Faktoren, die mit der Entwicklung und der Veranlagung der Menschen zusammenhängen, – der Überlebensangst, dem Drang, sich möglichst viel anzueignen, Fremdenfeindlichkeit, Herrschaftsbegierden und so weiter – die diagonalen Siyu- Mechanismen als erste Reaktion auf Situationen, die Fragen nach Selbstbehauptung beinhalten, nicht nur natürlich, sondern notwendig erscheinen. Bis man sich auf einen Prozess bewusster Selbstkultivierung eingelassen hat – der gleichzeitig habgierige Impulse im Zaum hält und dabei eine Alternative zu solchen anbietet –, neigen die Unzulänglichkeiten, die den unkultivierten Diagonalen innewohnen, dazu, sich unerbittlich in noch hoffnungslosere Varianten zu verschlechtern. Taijiquan-Übungsweisen wurzeln zwar in den Zielsetzungen der Kampfkünste, sind aber so ausgerichtet, dass sie diese Tendenz überwinden – doch das kann nur gelingen, wenn das Üben auf der Basis der „Vier-Vier-Theorie“ stattfindet. Die Sizheng als Basis für das richtige Erlernen der Siyu zu verstehen gehört zum Herzen der Taijiquan-Methode und ermöglicht freie Improvisationen mit den „dreizehn Kräften“.

Vervollkommne zuerst die Sizheng-Handtechniken; dann lerne Cai, Lie, Zhou und Kao. Wenn du die Siyu-Techniken ausführen kannst, lassen sich die Shisanshi endlos fortführen.

Buzheng

Manche Menschen sind weitgehend unfähig, ihre Ausrichtung auf Konkurrenz abzubauen bis zu einem Punkt, an dem wenig oder gar kein Lernen mehr in ihrer Taijiquan-Praxis stattfindet. Unter solchen Umständen herrschen rohe Gewohnheitsmuster, die dem Instinkt entstammen, aber verstärkt durch achtlose Egozentrik, und führen zu so hässlichen Formen von Eskalation, dass sich die Ergebnisse unmöglich auch nur als „schlechtes“ Taijiquan beschreiben lassen. In solchen Fällen, in denen sowohl Sizheng- als auch Siyu-Techniken in einen völlig verdorbenen Zustand degradiert sind, sprechen wir von „Buzheng“.

Taijiquan unter Buzheng-Bedingungen zu trainieren ist tatsächlich sinnlos. Aggressives Greifen, Verdrehen, Festhalten oder billiges Vorstoßen mit Händen, Ellbogen und Schultern können zwar einen gewissen Erfolg haben, aber nur in einer prahlerischen Mission. Wenn dies die vorrangigen Strategien sind, ist die Praxis Buzheng.

Aber solche Praxis – und oftmals auch der entsprechende Übende – ist nicht nur schräg, es mangelt ihr an Integrität, sie ist häufig unredlich und vielleicht sogar unmoralisch. Sie führt zu nichts Nützlichem, außer zur gelegentlichen Verstärkung ihrer eigenen vorgetäuschten

Rechtfertigung, und wird gründlich kritisiert sowohl in den klassischen Texten als auch von traditionellen Lehrern. Eine solche verzweifelte Interaktion ist zwar unter bestimmten Umständen verständlich oder sogar nützlich als Testbedingung, aber den Prinzipien und Werten der Kunst entgegengesetzt.

Die Sizheng entstehen aus Bedingungen, die angemessen und ausreichend sind, und bringen ebensolche hervor. Die Siyu entstehen aus Bedingungen von Mangel und Schwäche und gleichen diese aus. Aber verzweifelte Buzheng-Praxis muss vermieden werden, wie schon deutlich im Yang-Text ausgesagt wird:

„Du kannst dich ausdehnen und zusammenziehen, wie du möchtest, aber verletze nie die Prinzipien des Taiji.“ Aus einem technischen Blickwinkel kann die Grenze zwischen allzu seitlichem und schlichtweg Buzheng-Vorgehen und derartigen Praktizierenden recht schmal sein. Manchmal lassen sie sich nur durch subjektiv wahrgenommene Charaktereigenschaften wie das Verhältnis zwischen gutem Willen und böswilliger Absicht oder Faktoren wie den Grad an Erfahrung, Achtsamkeit oder auch Intelligenz unterscheiden. Gelegentlich mag es vorkommen, dass jemand eine Buzheng-Technik gelernt und trainiert hat – im Glauben, dass sie die innersten Werte der Kunst widerspiegele, – und daher, obgleich ohne Kontakt zur eigentlichen Lehre, mit wohlmeinender Absicht.

Andere Spieler, die auf physische oder persönlichkeitsabhängige Eigenschaften setzen, zum Beispiel schnelle, starke, aggressive, heimtückische oder streitlustige Typen, geben die Prinzipien von weicher Kraft auf für den Ego-Kick, den ihnen die momentane Überlegenheit verschafft. In manchen Fällen rührt das aus einem Mangel an Bewusstheit für andere Ansätze her – die Qualität des Taijiquan-Unterrichts ist keineswegs einheitlich –, aber in den schlimmsten Fällen ist es wenig mehr als Niedertracht unter dem Deckmantel Taijiquan. Häufig tarnen solche „Taiji-Hochstapler“ ihre Feindseligkeit hinter schwer zu wiederlegender Rhetorik, besonders wenn sie ihre Behauptungen mit einem gewissen Maß an Heftigkeit untermauern können, vernünftige Diskussionen oder Appelle werden meist beiseite geschoben, falsch ausgelegt und feindselig erwidert. In jedem Fall ist auf lange Sicht das Heilmittel immer dasselbe. Die Rückkehr zu den Richtlinien und Prinzipien des Taijiquan bietet immer eine Lösung für Probleme jeder Art und Schwere, denen man entlang des Taiji-Weges begegnet. Zum Sizheng-Weg zurückzufinden muss nicht notwendigerweise besonders schwierig sein. Häufig machen bei hingebungsvollen Spielern ein paar kleine Veränderungen in der Ausrichtung und den Prioritäten schon einen weitreichenden Unterschied. In einer verständnisvollen Umgebung kann man ziemlich schnell Fortschritte erzielen. Bei ernsthaft Praktizierenden, die bereit sind, einige geschätzte Angewohnheiten abzulegen, kann der Prozess zu einer Offenbarung werden. Wenn man aufgrund von unveränderlichen Buzheng- Bedingungen der technischen oder der ethischen Variante keine Fortschritte machen kann, muss ein anderer Weg zur Meisterschaft gesucht werden – vielleicht sogar ein Wechsel des Studienfaches und der Lernumgebung. Es ist im Taijiquan unmöglich merkliche Fortschritte im Si-Zheng-Training zu machen, wenn Fehler in der grundlegenden Schrittarbeit vorherrschen. Tatsächlich liegt es zu einem großen Teil an Missverständnissen bei der Standstruktur, dass Schwächen auftauchen, die die Übenden unnötigerweise in die vier Diagonalen und darüber hinaus in Buzheng treiben. Diesem Bereich widmet man sich im Taijiquan durch das Lernen der „Wu Bu“ oder „fünf Schritte“. Die fünf Schritte bilden zusammen mit den acht Toren die dreizehn Kräfte. Die Sizheng, Siyu und Wu Bu müssen sich völlig gegenseitig verstärken: physisch im Training und der kämpferischen Anwendung und konzeptuell für die Entwicklung stichhaltiger Methoden und die Förderung der Taijiquan-Theorie. Ohne die Verstärkung durch korrektes Standverhalten ist die „Vier-Vier-Theorie“ unhaltbar und das Üben wird unvermeidbar verzerrt. Daher rührt die Aussage: „Ohne ein Verständnis der dreizehn Kräfte kann man seine Kunst nicht wirklich Taijiquan nennen.“

Von Sam Masich

S. Masich studiert seit seinem achtzehnten Lebensjahr Taijiquan und die inneren chinesischen Künste. Er unterrichtet seit 25 Jahren hauptberuflich in Kanada, den USA, Mexiko und zunehmend auch in Europa. Er hat zahlreiche Lehrfilme zu Taijiquan und verwandten Themenbereichen produziert. www.sammasich.com