13 Grundbewegungen des Taijiquan (Tai Chi Chuan)
Von Udo Werner
Nach acht Jahren Trainingserfahrungen in Karate wollte ich die mystischen Kräfte des Qi kennen lernen. Ein harmloser Zettel im Schaufenster einer Buchhandlung forderte mich endlich zu diesem Schritt auf. Mit großer Begeisterung und besten kämpferischen Erfahrungen meldete ich mich zu einem Taiji-Kurs an.
Die Gewohnheit des Kata-Trainings im Karate zwang mich zu der Annahme, dass wir die Peking-Form als Vorbereitung für die anschließende Kampfausbildung lernten. Aber nein, wir übten nur einzelne Elemente aus der Form, zum Beispiel »Den Spatzenschwanz fangen«. Die Stimme des Lehrers durchbrach so manchen stillen Augenblick – Begriffe wie Peng, Lü, Ji oder An bannten meine Aufmerksamkeit und mir wurde klar, dass diese der Schlüssel zum Erfolg im Taijiquan sein mussten. Der allgemeinen Übungsreihenfolge nach versuchten wir die Begriffe zu klären.
Mein imaginärer Trainingssandsack litt damals unter meiner Karate-Erfahrung, doch schon nach wenigen Schlägen stand mein Lehrer hinter mir und hielt meinen Ellenbogen mit dem Satz auf: »Bitte übe so sanft und geschmeidig wie ein Katze!« Aber wie übt die Katze einen Ellenbogenstoß? Mein Interesse war geweckt.
Ba Men – die acht Tore
Die sogenannten acht Grundtechniken sind keineswegs einfach Bewegungsmuster, die einen vorgegebenen Zweck erfüllen. Auch wenn sie gerne mit bestimmten Bewegungen aus den Taiji-Formen identifiziert werden, in denen sie besonders deutlich zum Ausdruck kommen, handelt es sich letztlich um Muster im Umgang mit Kräften – denen eines Gegenübers sowie den eigenen. Das macht es nicht leichter zu begreifen, worum es dabei eigentlich geht, und gleichzeitig verständlich, warum diese »Grundenergien« erst im Üben mit einer anderen Person wirklich erfahren werden können.
Um diesen Weg etwas zu erleichtern, gebe ich zu den acht Grundtechniken einige praktische Hinweise, die sich aus meiner eigenen Übungserfahrung ergeben haben
Peng
Das zumeist mit Abwehren übersetzte Peng hatte kaum Gemeinsamkeiten mit den Defensivtechniken des Karate. Ich sollte mir vorstellen, wie ein Fischer im Boot zu stehen und ein Netz auszuwerfen. Aha, also doch keine Kampfkunst, schoss es mir durch den Kopf – bis dato hatte mein Lehrer mich noch nicht spüren lassen, wie sich Peng anfühlen kann.
Den nächsten Gondelausflug nutzte ich, um ein netzwerfender Fischer zu sein. Aufrecht in Taiji-Haltung stehend, versuchte ich »Den Spatzenschwanz zu fangen«–was einem Sprung ins kalte Wasser aber wesentlich näher kam. Ich stellte mir vor, wie ich mit der Hüfte das schwankende Boot austarierte und gleichzeitig mit einer Kniebeuge das nasse, schwere Netz aufhob, um es in weitem Bogen ins Wasser zu schleudern. Dabei sollte sich das Netz auch noch öffnen und gleichmäßig auf die Wasseroberfläche legen. Gedanklich versuchte ich eine Verbindung der Fußsohlen mit dem schwimmenden Boot zu ertasten. Die darauf aufbauende Bewegung richtet sich nach vorn und von innen nach außen – vor allem ist diese Bewegung nicht auf die Arme beschränkt.
Ein anderes Bild für die Qualität von Peng ist ein Ballon, der sich elastisch in alle Richtungen aufbläht.
Lü
Der Ausdruck Lü wird in der Fachliteratur oft mit Ziehen übersetzt und soll eine eindringende Kraft am eigenen Zentrum vorbeileiten. Ziehen ohne zu greifen – ich wartete vergeblich auf einen Geistesblitz. Trotz zeitaufwändiger Übungen musste ich mich bis zu jenem Tag gedulden, als mein jetziger Lehrer ein Lü mit dem Bauch demonstrierte. Ich drückte gegen seinen Bauch und hatte das Gefühl, meine Hand klebe auf einem sich drehenden, mitreißenden Ball. Zuerst fiel ich in ein »Schwarzes Loch« – Augenblicke später spürte ich den Boden, aber nicht mehr unter meinen Füßen. Der bekannte Fels in der Brandung war mein Lehrer und er lächelte mich an, seine Verzückung galt wahrscheinlich meiner kleinen Angriffswelle. Dennoch verstand ich erst an dieser Stelle, warum man bei Lü auch von Zurückrollen spricht.
Eine zweite sinnbildliche Vorstellung half meinem Verständnis auf die Sprünge. Um ein einzelnes Schaf aus einer dicht gedrängten Herde zu greifen, sollte man nicht alle Tiere als Gegner sehen – unweigerlich würde man überrannt. Das erwählte Schaf sollte klugerweise mit der Herde geführt und dabei sanft bestimmend an den Rand gezogen werden. Die Erfolgsaussichten wären vielversprechender.
Zu meiner Verwunderung übten wir Lü mit einem Schritt nach vorn. Nun trennte ich mich endgültig von dem Begriff »Ziehen«.
Dem Kontakt zum Partner während der Bewegung mit gleichbleibender Intensität folgen, seiner Bewegung einen Hauch vorauseilen, um zu kontrollieren – dann ablenken. Anhaften, aber gleichzeitig vorauseilen, das sind wieder die berühmten Polaritäten von Yin und Yang. Wenn es gelingt, spürt man die Bedeutung des Taiji- Grundsatzes: »Mit der eigenen Kraft von vier Unzen eine Kraft von 1000 Pfund ab- lenken …«
Ji
Das Wort Ji bedeutet soviel wie Drücken. Aus meiner bisherigen Erfahrung schließt sich Ji meist an Lü an. Dabei ist es gleich, ob ich selbst Lü ausführe oder mein Gegenüber. Aus Peng in Ji zu wechseln ist ebenfalls möglich.
Eine klassische Ausgangssituation für Ji entsteht, wenn mein Partner mich angreift und ich ihn mit Lü aus dem Gleichgewicht bringen möchte. Hat er meine Absicht rechtzeitig erkannt, wird er versuchen seinen Unterarm an meinen Oberkörper zu legen, um mit Ji meine Aktion zu kontern. Dies wirkt im ersten Moment für mich wie ein Peng – eine abwehrende Reaktion. Wenn ich mich nun auf eine solche Abwehrreaktion von ihm einstelle, nimmt mein Partner die Spannung aus dem angelegten Arm, führt zeitgleich seine zweite Hand zu seinem angelehnten Handgelenk und drückt mich darüber in eine überraschend neue Richtung. Durch das Wechseln der Energie von einem Arm auf den anderen sowie der Richtung spricht man von wechselnder Kraft.
An
An, Schieben oder Stoßen, geht geradlinig nach vorn. Es kann mit beiden Armen oder nur mit einer Hand gestoßen werden. Meistens ist diese Technik mit einem Schritt nach vorn oder hinten verbunden.
Immer wenn mein Lehrer schieben wollte, folgte er zuerst meiner Vorwärtsbewegung und leitete sie in einer kaum wahrnehmbaren u-förmigen Bewegung auf mich zurück. Dadurch dass ich mir fest vorgenommen hatte zu schieben, waren meine Arme und Schultern steif. Wie ein Bob im Eiskanal wurde ich durch die Kurve gedrückt. Im Unterschied zum Bobsport schloss sich für mich eine Flugphase an. Lehrhafte, unvergessliche Augenblicke – stoße niemals mit angespannten Muskeln. Wie soll ich aber ohne Anspannung stoßen?
Der Körper sinkt wie eine Spannfeder zusammen. Der Angriff wird über eine u-förmige Bewegung auf den Gegner zurückgelenkt, der hoffentlich durch die Änderung der Bewegungsrichtung mit seinem Gleichgewicht zu kämpfen hat. Drücke ich eine Spannfeder zwischen zwei Fingern zusammen, baut sich ein Druck auf. Jetzt kann ich die Richtung festlegen und einen Finger blitzschnell loslassen. Die Feder entlädt sich und springt in die neue Richtung. Es hört sich einfach an, bedarf jedoch längerer Übung mit einem Trainingspartner, um effektiv umgesetzt zu werden.
Cai
Nach unten Ziehen oder Reißen sind zwei mögliche Übersetzungen für Cai. »Die Nadel vom Meeresboden holen« ist das Paradebeispiel aus der Yang-Stil-Form für diese Technik. Dabei wird ein Angriff erst mit Lü neutralisiert und dann mit einer weiteren Bewegung nach unten, also Cai, in eine neue Richtung geleitet.
Immer wenn ich diese Technik schnell ausführte, waren es reine Armbewegungen – sicherlich kraftvolle, aber keine Taiji-Bewegungen. Also versuchte ich mein Zentrum fallen zu lassen, leider bewegte sich meine Hand unabhängig von der Hüfte und mein Partner konnte mich umso leichter aus dem Gleichgewicht bringen.
Ich glaube, dass ich den Durchbruch mit folgender Vorstellung schaffte: Meine Hüfte oder genauer das Dantian und das Handgelenk meiner aktiven Hand sind mit einem imaginären Seil verbunden. Ich fasse die zu reißende Hand meines Gegners und »spanne« durch eine Hüftbewegung nach hinten unten sein Seil, so dass er an seinem Gleichgewicht arbeiten muss. Ist dies erreicht, kann ich mit einer aktiven Hüftbewegung nach unten (Fallenlassen der Hüfte) den Partner aus seiner mit Lü vorherbestimmten Bewegung reißen.
Lie
Mit Trennen oder Spalten wird die Technik Lie beschrieben. Mit einer Körperhälfte führen wir dabei Peng und mit der anderen Lü oder Cai aus, das heißt, das gleichzeitig zwei unterschiedliche Kräfte in unterschiedliche Richtungen wirken.
Nehmen wir als Beispiel »Die Mähne des Wildpferdes teilen«. Wir stehen auf dem linken Bein, den rechten Fuß vorn. Der Oberkörper ist locker nach links gedreht, in den Händen halten wir einen imaginären Ball vor dem Bauch. Wir verlagern das Ge- wicht auf das vordere Bein und bewegen den rechten Arm mit einer schönen runden Bewegung (Peng) nach vorn oben. Gleichzeitig wird der Oberkörper nach rechts gedreht und die linke Hand nach links hinten – der hauptsächlichen Bewegungsrichtung entgegen. Aha, ich soll also mit einer Hand ziehen, festhalten beziehungsweise das imaginäre Seil spannen und mit der anderen Hand drücken? Aber gebe ich damit meinem Partner nicht das Gleichgewicht zurück?
Es kommt auf die Richtungen der Kräfte an. Ziehe und drücke ich in genau entgegengesetzter Richtung, so passiert nichts. Kann ich aber die unterschiedlichen Kraftrichtungen auf den Schwerpunkt des Gegners abstimmen, so lässt sich dessen Gleichgewicht brechen – ähnlich einer längeren Latte, die in eine aktive Drehtür geschoben wird. Die Latte wird von der Tür quasi angesaugt und durch den nachfolgenden Flügel zerbrochen.
Zhou
Der Begriff Zhou bedeutet zunächst Ellenbogen und wird in unserem Zusammenhang meist als Ellenbogenstoß übersetzt. Ich lernte verschiedene Einzelübungen kennen, bei denen Ellenbogenstöße gegen einen imaginären Gegner nach vorn, nach hinten und zur Seite ausgeführt wurden. Ebenso können Schritte in alle Richtungen eingebaut werden. Sogar die Kombination »Schritt nach hinten mit Stoß nach vorn« ist möglich. Allerdings beschränkt sich dieser Begriff nicht auf Stöße, sondern bezeichnet alle Techniken, die mit den Ellenbogen ausgeführt werden. Das können gleichermaßen Anwendungen von Peng-, Lü-, Ji- oder An-Kräften sein.
Ein Problem bei diesen Techniken ist die Verbindung des Ellenbogens mit dem Körper. Häufig eilt die Bewegung des Körpers dem Ellenbogen voraus. Mir half die Idee des Schiebens. Stell dir vor, du stehst Bauch an Bauch mit deinem Übungspartner. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, senkst du den Körper und verlagerst das Gleichgewicht auf ein Bein. Bitte dabei im Kontakt nicht nachlassen. Mit einer sich vom Fuß über Hüfte und Schulter windenden Bewegung wird schiebender Druck mit dem Ellenbogen auf den Partner ausgeübt. Sollte dieser einen Schritt nach hinten tun, ziehst du das hintere Bein heran und stehst wieder in Ausgangsposition, um die Übung erneut zu beginnen. Lasse alle Bewegungen geschmeidig und fließend werden – katzenähnlich.
Kao
Der Begriff Kao steht für Schulter und wird in Bezug auf die Taiji-Techniken allgemein mit Schulterstoß übersetzt. Dieser kann zur Seite, nach vorn, aber auch nach hinten sowie aktiv oder passiv ausgeführt werden. Ebenso wie Zhou ist Kao nicht auf ein Stoßen beschränkt, sondern bezeichnet jede Anwendung, die über die Schulter übertragen wird.
Ein Beispiel für die passive Variante wäre, wenn ich in einem stabilen, lockeren Stand die Angriffsbewegungen durch Lü ablenke und den Gegner auf meine Schulter auflaufen lasse. Die ankommende Energie muss dabei ohne Anstrengung in das hintere Bein abgeleitet werden. Der Gegner fällt auf meine Schulter und spürt einen im- pulsartigen Widerstand, so als würde er mit Schwung gegen eine Laterne laufen. Dies ist eine sehr wirkungsvolle Technik. Allerdings ist sie nicht leicht auszuführen, da der Spielraum für eine zentrierte Bewegung relativ klein ist.
Bei einem aktiven Schulterstoß muss man sich noch genauer darüber im Klaren sein, wie weit man das Gewicht verlagern und gleichzeitig zentriert bleiben kann, denn bei zu viel Aktivität verliert man schnell
das Gleichgewicht. Sollte ich mit meiner Schulter den Gegner nicht erreichen, so kann ich mit dem Ellenbogen die Bewegung verlängern.
Kao und Zhou sind sich sehr ähnlich – der Unterschied besteht im Berührungspunkt mit dem Gegner.
Wubu – die fünf Schritte oder Richtungen
Ergänzt werden die acht Techniken mit den fünf Richtungen: Qianjing – Vorwärtsgehen, Houtui – Zurückweichen,
Zuogu – Nach links schauen, Youpan – Nach rechts blicken und Zhongding – Im Zentrum Stehen. Vor, zurück, links und rechts können sich sowohl in einer Gewichtsverlagerung beziehungsweise Drehung als auch durch Schritte ausdrücken. Wesentlich sind die Ausrichtung des Körpers und die Qualität der Bewegung, wobei die Verbindung mit dem Gegenüber ununterbrochen beibehalten werden soll. Grundlage ist immer das zentrierte Gleichgewicht. Es bedeutet jedoch nicht, dass man in einer mittleren Stellung verharrt, sondern dass man in jeder Bewegung ein stabiles Gleichgewicht wahrt. Es bildet die Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Technik wirkungsvoll eingesezt werden kann.
Alle Grundtechniken können in jede Richtung und mit jedem Schritt ausgeführt werden. Sie werden sinnvollerweise zuerst ohne Schritte geübt. Nach und nach können Schritte die Einzelübungen ergänzen. Im Unterschied zum Formtraining sollten alle Techniken mit beiden Körperseiten trainiert werden. Besonderer Wert wird auf die exakte Ausführung gelegt.
Für die fremdartig klingenden Techniken des Taijiquan lässt sich nur schwer eine direkte Übersetzung finden, daher habe ich nach Bildern in meiner eigenen Vorstellung gesucht und entdeckte so den Weg zurück in die Stille – nicht die tote Stille, sondern die von Yin und Yang.
Udo Werner begann 1982 mit Karate-Training, nach dem Mauerfall kam er erstmalig in Kontakt mit Taijiquan. Seit 1994 Schüler von Yang Zhenhe im Yang-Stil, weitere Anregungen von Chen Xiaowang und Jan Silberstorff. Udo Werner unterrichtet nebenberuflich Taijiquan an der 1. Aikidoschule in Dresden.
Die Fotos mit Udo Werner sind aus dem Archiv von Udo Werner.
Dieser Artikel stammt aus dem TQJ Special Taijiquan für Einsteiger.