Taijiquan als Lebenskunst

Strategien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit¹

1 Zum Verständnis der Lebenskunst

2 Taijiquan: Sich Einüben in gesundheitsfördernder Lebenskunst

Autor: Prof. Dr. Klaus Moegling

1 Zum Verständnis der Lebenskunst

TaijiquanLebenskunst ist ein vielschillernder und durch die Geschichte der Philosophie vielfach berührter Begriff. Bereits die antike Philosophie beschäftigte sich immer wieder zentral mit Fragen der Lebenskunst. Der Philosoph Wilhelm Schmid (1999) macht deutlich, dass es sich bei der Frage nach der Selbstmächtigkeit (autárkeia), der von Aristoteles gestellten Frage nach der Selbstsorge (epimélia heautou) und der Frage der Übung (áskesis) nicht um die Kultivierung eines egoistischen Hedonismus geht, sondern um eine Balanceleistung menschlicher Identitätsfindung in sozialen Situationen – zwischen den Bedürfnissen des Selbst und den Erwartungen der Gesellschaft. Der Begriff der Lebenskunst weist also im hier verwendeten Verständnis deutlich über einen individualistischen Begriff der Glück hinaus und ist daher auch in der Lage, das eigene Glück auch immer in Verbindung mit dem Glück des anderen zu begreifen.

So fasst z. B. der Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid Lebenskunst als eine gesellschaftliche Angelegenheit, als gemeinsame Sache vieler Individuen auf, die miteinander handeln und die Zumutungen von außen gemeinsam abzuwehren lernen bzw. selbst nicht zur Zumutung für Andere werden – so Schmid (1999, 11):

„Ein Individuum, das in der Lage ist, mit sich und seinem Leben zurechtzukommen, wird es seinerseits wohl auch nicht nötig haben, aus der Erniedrigung Anderer das Gefühl eigener Stärke zu beziehen; sein Selbstverständnis endet nicht an den Grenzen des eigenen Selbst.“

Lebenskunst geht über die Nachahmung von Vorbildern hinaus, sie enthält das Engagement für einen eigenen Stil, um die Entwicklung von Eigenart in der Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und subjektiven Bedürfnissen. Horkheimer & Adorno wenden sich daher kritisch gegen den Versuch der Kulturindustrie, den Menschen zu standardisieren und ihn zu verdinglichen:

„Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, dass die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fort besteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr als etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit vom Achselschweiß und Emotionen. Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.“ (Horkheimer & Adorno 1944/ 1996, 176)

Lebenskunst ist also mehr als Anpassung an von Medien entwickelte standardisierte Menschenbilder, aber auch mehr als individualistisches Glücksstreben. Lebenskunst zeigt sich in der Fähigkeit des Menschen, kreativ und klug auf existenzielle Anforderungen des Lebens zu reagieren und sich Spielräume für die Selbstverwirklichung, Erholung und Entspannung während der Ausbildung, der Arbeit und der arbeitsfreien Zeit zu eröffnen. Hierbei muss jeder seinen eigenen Weg der Lebenskunst finden, der zwischen dem individuellem Glücksstreben und dem Recht des Anderen erfolgt, selbst sein Glück zu suchen, so- fern auch dies sozial verantwortlich erfolgt.

Lebenskunst zeigt sich darin, Glück zu erleben –
ein Glück, das nicht auf Kosten der anderen erkauft ist.

2 Taijiquan: Sich Einüben in gesundheitsfördernder Lebenskunst

Ein Bewegungssystem, wie es im Übungsgut des Taijiquan zu sehen ist, kann als wichtiges Lebensstilelement eine bedeutende Rolle bei der Kunst spielen, das Leben sinnvoll, freudvoll und bewusst in einer gesunden Balance von Anspannung und Entspannung zu gestalten. Akzeptiert man ein ganzheitliches Verständnis von Lebenskunst, dann muss das Sich-Üben im Taijiquan neben biomedizinischen Bezügen² auch noch in Kontakt mit anderen Parametern des eigenen Lebens gebracht werden wie Lebensstilelemente, z.B. Bewegung, Ernährung, Schlafverhalten, aber vor allem auch Lebenssinn, ökologische Entwicklungen, sinnvolle Arbeitstätigkeit, soziale Kontakte und lebensunterstützende politische Verhältnisse.
Taijiquan soll aufgrund seiner Verbindung von Philosophie, leibbezogener Wirkkraft sowie seiner Impulse für das meditative Erleben als ein Übungssystem aufgefasst werden, das in das eigene Leben gestaltend hineinwirken kann, wenn man dies zulässt. Hierbei spielt der philosophische Ursprung, die Eigenart der Taiji-Bewegungen und die subjektive Zugangsweise des Übenden zu seinem Erleben eine wesentliche Rolle. Hiervon sind nicht nur physiologische und funktionelle Werte, sondern auch das eigene Wohlbefinden, die Ich-Identität und das soziale Miteinander berührt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das regelmäßige Sich-üben das ‚richtige Leben’ ersetzen kann. Taijiquan ist ein guter Freund, der uns im Leben begleitet und immer wieder gute Impulse und Hinweise geben kann, wenn wir dafür aufgeschlossen sind. Taijiquan kann dir helfen, dein Leben in Ordnung zu bringen, aber in Ordnung musst du es schon selbst – eventuell auch zusammen mit anderen – bringen. 

Das Taijiquan kann niemals das Leben selbst ersetzen, Aber es kann ein guter Begleiter auf dem eigenen Lebensweg sein. Taijiquan gibt Struktur, gibt Hinweise, ermöglicht Kontakt und: macht Spaß.

Dies bedeutet, dass ein rein biomedizinisch orientiertes Modell des Lebens und von Gesundheit und Krankheit weder geeignet ist, den Aspekt der Lebenskunst noch Gesundheit und Krankheit und vor allem die Verbindung beider Aspekte angemessen einzufangen.

Wenn Grundzüge des Gesellschaftssystems sowie dessen zivilisatorischer Umgang mit der Natur zur strukturellen Gefahr für die Gesundheit der in ihm lebenden Mitglieder werden, werden die Verarbeitungsmechanismen der Menschen überfordert und es stellt sich die Frage, ob nun die Subsysteme oder das Gesamtsystem zu überleben haben. Besonders Göpel (1984) hat diesen politischen Bezug zum Gesundheitsthema immer wieder betont und ich möchte diesen Aspekt mit seiner für mich immer noch Weg weisenden Gesundheitsdefinition noch einmal betonen:

„Gesundheit ist eine Utopie, eine Sehnsucht nach Lebensfreude. Sie ist an kollektive Erfahrung und individuelle Anstrengung gebunden. Sie setzt ein aktives Ausbalancieren von inneren und äußeren Antrieben und Widerständen voraus. Sie ist dynamisch. Die Voraussetzungen und Bedingungen wechseln mit dem Alltag, der sozialen Umgebung der Umweltbedingungen. Sie läßt sich nicht durch ritualisierte Gebote von Gesundheitsaposteln, wohl aber durch bewußte Gewohnheitsbildung erreichen. Nicht durch eine Verfeinerung und Ausbreitung der medizinischen Reparaturdienste, sondern durch eine bewußte Umweltgestaltung. Nicht durch eine Ausweitung der Fremdkontrolle und Überwachung, sondern durch die Entwicklung von Selbstbewußtsein und kollektiver Erfahrung. Es ist die Mobilisierung des ‘Dennoch’ in der Gewißheit der Beschränkung des Lebens. Nicht als Feilschen mit dem Tode in Intensivstationen oder anderen herrschaftlichen Verhältnissen, sondern als kollektive Entdeckung der Lebensfreude, als Resul- tat der geglückten Herausforderung, als Produkt des erfolgreichen Widerspruchs. Gesundheit heißt, mit Widersprüchen sensibel, kreativ, lustvoll und stärkend umzugehen.“³

Yin-YangGesundheit und Krankheit sind also nicht nur an ein biomedizinisch begründetes Lebensmodell gebunden, sondern Ausdruck davon, ob ich einen Sinn im Leben erkenne, ob ich soziale Unterstützung habe, ob ich eine zufriedenstellende Arbeit habe, ob die politischen Verhältnis- se lebensunterstützend sind, ob die ökologischen Verhältnisse gesundheitsfördernd sind, ob…… Dann wird sich auch die psychosoziale Ressource Widerstandsfähigkeit (Resilienz) entwickeln, die für ein gesundes und tätiges Leben so notwendig ist, lassen sich Krisen mit Gewinn für die eigene Lebensgestaltung und für die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse lösen.
Lebenskunst mit Hilfe des Taijiquan könnte in einem derart ganzheitlich gesehenen Lebensfeld bedeuten, durch regelmäßiges Sich-Üben im Taijiquan hier einen lebensstärkenden und Ressourcen fördernden Einfluss wirksam werden zu lassen. Hierbei sollte im Zusammen- hang mit Taijiquan und gesunder Lebenskunst die zentrale Bedeutung des meditativen Aspekts hervorgehoben werden, der, wenn man hierfür offen ist, tiefergehende Welt- und Selbsterfahrungsmöglichkeiten zulässt:

„Dann geht es in jeder meditativen Übung um die Verwandlung des im Leibe seines Welt-Ichs gefangenen Menschen zu einer Weise, in der Welt da zu sein, in der er als Leib, der er ist, durchlässig geworden ist, für das in ihm anwesende Sein.“ (Dürckheim 1988)

Dies ist ein Zitat von Eberhard Göpel, das von der Projektgruppe „Nationale Strategien 2000“ (1984, 20) abgedruckt wurde – einer Arbeitsgruppe, an deren Stellungnahme zum WHO-Bericht „Gesundheit 2000“ E. Göpel beteiligt war.
Lebenskunst heißt dann vor allem für das Sich-Üben im Taijiquan, im Augenblick zu sein und seine Wahrnehmung in Achtsamkeit für sich und die mitweltlichen Bezüge zu pflegen. Bezüge zum Zen sind offenkundig und finden sich in der daoistischen Literatur mehrfach als ein Anspruch auf achtsame Lebenskunst mit gesellschaftlichen Bezügen vor. Über Achtsamkeitsübung gereifte Selbstakzeptanz und Weltliebe stellen somit die miteinander verbundenen Facetten anzustrebender Lebenskunst dar – so Lin Yutang in seiner Übersetzung des Daodejing: 

Vers 13 (Lin Yutang 1990, 75):

„… Darum: wer die Welt wie sein Selbst schätzt, dem kann die Regierung der Welt anvertraut werden; 
und wer die Welt wie sein Selbst liebt – die Welt mag dann seiner Sorge anvertraut werden.“

TaijiquanEin Bewegungssystem, wie es im Übungsgut des Taijiquan zu sehen ist, kann somit als wichtiges Lebensstilelement eine bedeutende Rolle bei der Kunst spielen, das Leben sinnvoll, freudvoll und bewusst in einer gesunden Balance von Anspannung und Entspannung sozial verantwortlich zu gestalten. Dies soll nicht nur aus reiflicher Überlegung, sondern auch aus mehr als 30 Jahren geübten Taijiquan heraus berichtet werden. Ähnliches gilt natürlich auch für die Diskussion um den Aspekt der Lebenskunst im Qigong (vgl. Qigong und Gesellschaft (2008)) sowie für die entsprechend meditative Wahrnehmung von Praktiken wie z.B. Yoga, Feldenkrais-Arbeit oder Shiatsu. Sowohl die Philosophie der Lebenskunst als auch die Gesundheitswissenschaften haben von diesen an leiblicher Erfahrung ansetzenden Praktiken eine Menge zu lernen und sollten sich hier dem interkulturellen Lernen stellen. Eine gesundheitsfördernde Lebenskunst hat globale Bezüge und macht nicht an den Grenzen unseres Kulturbereichs halt. So gesehen ist das achtungsvolle Erlernen von Taijiquan auch eine inspirierende Form globalen Lernens im Versuch, Verantwortung für die eigene leibliche Selbstsorge zu übernehmen.


¹ Dies ist eine modifizierte Version des Beitrags von Klaus Moegling in Wissenschaftlicher Beirat des DDQT (2009), die in wiederum etwas veränderter Form 2010 im Taijiquan und Qigong Journal (tqj) erschien.
² Vgl. Moegling (Hrsg.) (2009)
³ Dies ist ein Zitat von Eberhard Göpel, das von der Projektgruppe „Nationale Strategien 2000“ (1984, 20) abgedruckt wurde – einer Arbeitsgruppe, an deren Stellungnahme zum WHO-Bericht „Gesundheit 2000“ E. Göpel beteiligt war.

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Autor: Prof. Dr. Klaus Moegling,

Jg. 1952, 1998-2003 Privatdozent für pädagogische Bewegungsforschung an der Universität Hamburg, seit 2004 apl.-Professur am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg, 1998 Habilitation in pädagogischer Bewegungsforschung (Universität Hamburg) zur Gesundheitswirkung des Taijiquan/ Tai Chi Chuan, 2006 Habilitation in Sozialwissenschaften (Universität Frankfurt), langjährige eigene Übungspraxis und Ausbildungstätigkeit in Taijiquan/ Tai Chi Chuan, von 2003 – 2010 Mitarbeit im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Dachverbands für Qigong und Taijiquan (DDQT). Seit 2008 apl. Professur im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel.

Literatur:

Altner, Nils (2006): Achtsamkeit und Gesundheit. Immenhausen bei Kassel. Capra, Fritjof (1985): Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern, München, Wien 1985. Da Liu (1982): Tao der Gesundheit und Lebensfreude. Frankfurt/ M. Dürckheim, Karlfried Graf (1988): Vom Leib der man ist in pragmatischer und initiatischer Sicht. In: Petzold, Hilarion (Hrsg) (1988): Psychotherapie & Körperdynamik. Pader- born,11-27. Göpel, Eberhard/ Ursula Schneider-Wohlfahrt (Hrsg.) (1995): Provokationen zur Gesundheit. Beiträge zu einem reflexiven Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Frankfurt/ M. 4 Vgl. hierzu zum Verhältnis von Achtsamkeit und Gesundheit auch Altner (2006)
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor (1944/ 1996): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/ M. Lin Yutang (Hrsg.) (1990): Die Weisheit des Laotse. Frankfurt/ M.. Moegling, Klaus (Hrsg.) (2009): Taijiquan im Test der Wissenschaft. Biomedizinische Unter- suchungen zur Gesundheitswirkung des Tai Chi Chuan (taijiquan). Immenhausen bei Kas- sel. Qigong und Gesellschaft. (2009): Ein Special des Taijiquan & Qigong-Journals. Hamburg. Schmid, Wilhelm (1999): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/ M. Wissenschaftlicher Beirat des DDQT (Hrsg.) (2009): Tai Chi (Taijiquan) als Lebenskunst. Strategien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit Kongressbericht. Immenhausen bei Kassel.