Wo liegen die Unterschiede von Tai Chi und Qigong?
Viele Kursleiter bieten neben Tai Chi Chuan auch Qigong an. Oftmals erscheint beides im Lehrangebot gleichberechtigt nebeneinander. Doch wo liegen die Unterschiede, wenn von Tai Chi und wenn von Qigong die Rede ist? Weil die beiden Übungssysteme auf ähnlichen bzw. teilweise sogar auf denselben Prinzipien beruhen, ist eine Unterscheidung nicht auf den ersten Blick erkennbar. Tai Chi Chuan und Qigong sind Bewegungskünste, bei denen die innere Entwicklung eines Menschen die zentrale Rolle einnimmt.
„Qigong“ kann wörtlich als „Energiearbeit“ oder „Arbeit mit der Energie“ übersetzt werden. „Tai Chi Chuan“ kann man als „Faust des höchsten Prinzips“ oder als „Faustmethode des allerhöchsten Prinzips“ übersetzen. Allerdings meint das höchste Prinzip (taiji) hierbei keine Wertung im Sinne des Gegensatzes von hoch und niedrig, sondern stellt vielmehr den Bezug der Kampfkunst zum taoistischen Denken dar. Während Qigong vor allem im Stehen praktiziert wird, wird Tai Chi in einer sogenannten Form gelernt. Das bedeutet, dass viele verschiedene Bewegungsabläufe aneinandergereiht werden und der Übende sich nach bestimmten Prinzipien durch den Raum bewegt.
Tai Chi und Qigong – die Arbeit mit der Energie
Tai Chi und Qigong – nur ein systematischer Unterschied
Tai Chi und Qigong – die Unterschiede im Überblick
Tai Chi ist eine Form von Energiearbeit – Qigong ist Energiearbeit
Tai Chi ist zielgerichtet – Qigong reicht über den Tai Chi-Horizont hinaus
Tai Chi ist Bewegung – Qigong ist die Stille
Tai Chi und Qigong nutzen die Energien anders
Tai Chi und Qigong – die Arbeit mit der Energie
Im Qigong geht es um die Regulierung und Harmonisierung der Lebensenergie Qi im menschlichen Körper. Deswegen wird Qigong auch zur Krankheitsprävention bzw. zur Therapie eingesetzt. Nach der Ansicht der Traditionellen Chinesischen Medizin entstehen Krankheiten aufgrund energetischer Schieflagen im Körper. Um diese Ungleichgewichte wieder auszugleichen bzw. sie gar nicht erst entstehen zu lassen, können bestimmte Übungen, nämlich Qigong-Übungen, praktiziert werden, die den Energiehaushalt des Menschen regulieren. Das besondere Merkmal der Qigong-Übungen ist die Verschmelzung von Atemübungen, Konzentrationsübungen, langsamen Bewegungen und meditativen Zuständen. Es gibt auch Dehnübungen und Kräftigungsübungen.
Auch im Tai Chi findet die Verschmelzung von Atemregulierung, Bewegung und Konzentration statt. Der Körper wird ebenso gedehnt und auch gekräftigt. Weiterhin können auch meditative Zustände eingeleitet werden. Scheinbar gibt es an diesen Stellen keine Unterschiede zwischen Tai Chi und Qigong.
Energiearbeit kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Der Qigong-Begriff ist darum ein sehr allgemeinfassender. Er dient als Sammelbezeichnung für alle Übungen, bei denen es um die effektive Arbeit mit der Energie geht. Auch wenn bestimmte Qigong-Übungen bereits im Altertum bekannt waren, ist die Bezeichnung „Qigong“ ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Qigong enthält sowohl physische Übungen, um die Energie zu steuern als auch psychische, die teilweise auf magisch-schamanische Traditionen zurückreichen. Hierbei geht es um die Steuerung der Energie mithilfe der eigenen Vorstellungskraft. So verbinden sich Körper und Geist zu einer Ganzheit, die ihrerseits wiederum Teil eines größeren Ganzen, nämlich des Kosmos, ist.
Im Tai Chi wird ebenso die Vorstellungskraft benutzt, um Bewegungen einzuleiten und körperinnere Prozesse besser aussteuern zu können. Jede Bewegung kann mit Visualisierungen wesentlich detaillierter ausgeführt werden als ohne die Zuhilfenahme der Vorstellungskraft. Die Energiearbeit im Tai Chi funktioniert genauso wie im Qigong. Es bleibt damit festzuhalten, dass sowohl Qigong als auch Tai Chi Chuan über grundlegende Gemeinsamkeiten verfügen, was die Art und Weise der Ausführungen, die theoretischen Grundlagen und die Ziele betrifft. Es geht stets darum, einen Zugang auf feinstofflicher Ebene zum eigenen Körper zu entwickeln, um eigene Energien wahrnehmen und steuern zu können.
Tai Chi und Qigong – nur ein systematischer Unterschied
Wenn es keine konkreten Unterscheidungsmerkmale auf der praktischen Ebene gibt, außer dass Tai Chi mehr Bewegungen erfordert als Qigong, dann muss der entscheidende Unterschied woanders liegen – nämlich im Bereich der Konzeption bzw. des Systems. Tai Chi und Qigong unterscheiden sich essenziell in den Zielsetzungen und Anforderungen, denn Tai Chi ist als eine Kampfkunst konzipiert worden. Qigong ist keine Kampfkunst, auch wenn die Übungen teilweise als Ergänzungsprogramm für Kampfkünstler benutzt werden oder bestimmte Kampfkunststile eigene Qigong-Übungen hervorgebracht haben. Qigong dient der Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten, die kampfrelevant sind, aber nicht zwangsläufig einen kämpferischen Charakter aufweisen müssen. Tai Chi Chuan enthält Angriffstechniken, Verteidigungstechniken, Strategien, Taktiken, Waffen und Partnerübungen – alles Elemente, mit denen der Einzelne auf einen Kampf vorbereitet werden soll. Die Energiearbeitet ist in erster Linie auf die Zielsetzung „Kampftauglichkeit“ gerichtet, auch wenn dies heutzutage nicht immer so trainiert wird. Die Energiearbeit dient beim Tai Chi im Allgemeinen der Körperkräftigung und der Förderung von Beweglichkeit und Entspannung. Dies strebt man auch Qigong an – jedoch nicht unbedingt, um Kampftechniken effektiv ausführen zu können, sondern um einen gesunden und starken Körper und Geist zu entwickeln.
Sowohl Qigong als auch Tai Chi berücksichtigen die Ansätze der Traditionellen Chinesischen Medizin und die theoretischen Grundlagen des Taoismus. Und weil bei den Bewegungen im Tai Chi die energetischen Aspekte berücksichtigt werden, wird eine Energiearbeit geleistet, die als Qigong bezeichnet werden kann. Tai Chi beinhaltet damit Qigong. Umgekehrt beinhaltet aber Qigong kein Tai Chi, weil Tai Chi eben eine in sich geschlossene Kampfkunst ist. Jede Bewegung des Tai Chi würde ihren Sinn verlieren, würde man den kämpferischen Aspekt vernachlässigen. Die Nutzung energetischer Zusammenhänge ist darauf aus, einen Kampf zu entscheiden. Übt man Tai Chi ohne die Intention einer Kampfkunst, verändern sich die energetischen Zusammenhänge und im strengen Sinne würde dann kein Tai Chi mehr geübt werden.
Tai Chi kann ein Teil von Qigong sein, wenn der Qigong-Begriff bei seiner weiten Definition von „Energiearbeit“ bleibt. Doch dann kann im Grunde alles eine Energiearbeit sein, bei der man mit Hingabe die Kultivierung bestimmter energetischer Zusammenhänge anstrebt. Es ist also sinnvoll, die Trennung zwischen Qigong und Tai Chi Chuan aufrechtzuerhalten, um unnötige Missverständnisse zu vermeiden.
Tai Chi und Qigong – die Unterschiede im Überblick
Es gibt vier Möglichkeiten, Tai Chi und Qigong voneinander zu trennen, wobei zu beachten ist, dass diese Trennungen lediglich auf der theoretischen Ebene sinnvoll sind, um Teilaspekte besser herausarbeiten zu können. In der Praxis ist nur die systematische Trennung sinnvoll, die sich aus den Handlungslogiken einer Kampfkunst auf der einen Seite und einer Energiearbeit im weiten Sinne auf der anderen Seite ergibt.
Tai Chi ist eine Form von Energiearbeit – Qigong ist Energiearbeit
Tai Chi ist eine Kampfkunst, in der die Arbeit mit Energien kultiviert wird, um den Körper optimal auszusteuern und eine bestimmte Geisteshaltung zu entwickeln. Qigong ist Energiearbeit und kann für viele verschiedene Zwecke eingesetzt werden: in der Kampfkunst, in der Therapie, als Sportergänzung oder als Entspannungsmaßnahme. Die energetischen Inhalte des Tai Chi haben ihre Wurzeln im Qigong, weil die Qigong-Übungen wesentlich älter sind als Tai Chi. Tai Chi als Kampfkunst gilt erst ab dem 17. Jahrhundert als historisch gesichert.
Tai Chi ist zielgerichtet – Qigong reicht über den Tai Chi-Horizont hinaus
Im Tai Chi ist die Energiearbeit auf ganz konkrete Ziele hin bestimmt. Da es sich um eine Kampfkunst handelt, muss die Arbeit mit der Energie dazu beitragen, den eigenen Körper zu stärken und energetische Zusammenhänge zwischen einem selbst und einem Kontrahenten zu erspüren. Qigong reicht in seiner umfassenden Deutung weit über diesen Aspekt hinaus, weil es neben einer allgemeinen Körperkräftigung oder Geistesschulung bestimmte Krankheiten lindern kann oder bei verschiedenen Belastungen entspannend wirken kann. Tai Chi wirkt auch gesundheitsfördernd. Dies ist jedoch mehr als „Nebenwirkung“ zu verstehen und nicht als Hauptzweck des Tai Chi.
Tai Chi ist Bewegung – Qigong ist die Stille
Zuerst sei gesagt, dass diese scharfe Trennung nicht die Bewegungsquantität meint, sondern die Qualität. Im Tai Chi werden viele, teilweise sehr komplexe, Bewegungen ausgeführt, die mal langsam, mal schnell, mal ruhig und fließend oder mal explosionsartig sein können. Es gibt auch Sprünge und andere akrobatische Elemente. Qigong findet dagegen eher im Stehen, Sitzen oder Liegen statt. Der Fokus liegt auf den inneren Prozessen, so dass äußere Bewegungen vernachlässigt werden.
Tai Chi und Qigong nutzen die Energien anders
Von der Zielsetzung hängt alles ab, und so unterscheiden sich Tai Chi und Qigong auch in der Art und Weise der Energienutzung. In beiden Systemen sollen die Bewegungen den Qi-Fluss im Körper anregen. Beim Tai Chi geht es jedoch darum, diesen Qi-Fluss für die Effektivität von Kampftechniken zu nutzen. Im Qigong spielt dies keine Rolle. Hier geht es um individuelles Wachstum und um körperliche Genesung.
Video „Qigong oder Tai Chi“
Autor: Christoph Eydt
Kalligraphie: Wang Ning
Fotos: L. Liebermann und taiji-forum.de