Qigong in der Schule

Qigong in der Schule – Stärkung der Lebenskompetenz

"Qigong in der Schule" von Dr. Imke Bock-MöbiusDie Qigong-Lehrerin Dr. Imke Bock-Möbius berichtet über ihre Erfahrungen im Qigong-Unterricht mit Jugendlichen in einer Realschule. Neben Qigong waren auch Entspannungs- und Taijiquan- Übungen Teil der Unterrichtsgestaltung. (nk)

Qigong als Neigungsfach im Sportunterricht einer Realschule
Angenehme Erfahrungen mit Bewegung
Reise in die Stille
Beweglichkeit und Koordination fördern
Klares Feedback

Qigong als Neigungsfach im Sportunterricht einer Realschule

An der hiesigen Realschule ist der Sportunterricht sehr gut auf die Interessen der Schüler ausgerichtet: Für die Klassenstufen 9/10 ist er in Neigungsgruppen organisiert. Das Schuljahr wird in vier Quartale aufgeteilt, so dass in einem Schuljahr vier verschiedene Disziplinen bzw. Neigungsfächer gewählt werden können. Dazu gehören u. a. Geräteturnen, Rückschlagspiele, Leichtathletik, Klettern, Fitnessstudio, Mountainbiking, Kanufahren. Das Angebot war so vielfältig, dass ein Sportlehrer an dieser Schule auf meine Nachfrage hin der Ansicht war, dass man Qigong durchaus mit ins Programm aufnehmen könnte. Voraussetzung war allerdings, dass ich Noten geben könnte. – Das versprach spannend zu werden.

Es begann im November 2006, also dem zweiten Quartal des Schuljahres 2006/7. Ich hatte angegeben, dass ich gerne mit sechs bis zehn Schülern über eine Doppelstunde arbeiten würde. Erfreulicherweise hatten sich dann fast 50 Schüler angemeldet, so dass drei Gruppen zu 16 bis 17 Teilnehmern zusammengestellt wurden. Ich hatte freie Hand und durfte auch die philosophischen Hintergründe besprechen, wurde aber gebeten, nicht zu missionieren (was ich sofort zusicherte) und meine Bewertungskriterien darzulegen, die ich daraufhin ausarbeitete. Bei der Benotung in der jeweils letzten Kursstunde ist ein Sportlehrer des Kollegiums anwesend. – Verwaltungstechnisch war es günstig, dass ich neben der Qigong-Ausbildung bei der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng eine gültige Übungsleiterlizenz für Breitensport habe; meiner Einschätzung nach war das für die Schule wichtiger als mein Qigong-Ausbildungszertifikat.

Es stellten sich mir also die Fragen, wie baue ich meinen Unterricht für Jugendliche auf und wie bewerte ich, wobei doch Qigong eine Bewegungskunst ist, in der es eben nicht auf Leistung, sondern auf Körpergefühl, innere Ausrichtung, Achtsamkeit und Bewusstheit ankommt. Andererseits war Qigong als Teil des Sportunterrichts vorgesehen und mein Unterricht musste „irgendwo“ auch mit den Anforderungen in den anderen Sport-Neigungsfächern vergleichbar sein. Ich entschied mich für eine dreiteilige Unterrichtsgestaltung aus Qigong, Entspannung und Taijiquan; abgekürzt wurde mein Fach „Qigong“ genannt.

Angenehme Erfahrungen mit Bewegung

Abb 1_Qigong_Schule
Abb. 1: Abklopfen der Yang-Leitbahnen der Beine

Im ersten Teil begann ich mit einigen Runden leichten Warmlaufens zu Popmusik; die Halle war kalt und ich wollte gleich klarstellen, dass es beim Qigong nicht darum geht, Anstrengung zu vermeiden, sondern sich im Einklang mit dem Körper zu bewegen, die verschiedenen Körperabschnitte zu lockern, zu beleben und auf angenehme Art beweglich zu machen. Es folgte ein Qigong-Aufwärmprogramm in Kreisaufstellung zur Lockerung der Gelenke und zum unkomplizierten ersten Kontakt mit den Leitbahnen (Abb. 1). Es wurde an einen unbefangenen Umgang mit chinesischen Begriffen und ihren Bedeutungen herangeführt. Danach folgten Übungen aus dem Qigong Yangsheng von Jiao Guorui1,2, zuerst die drei Vorbereitungsübungen. Je nach der Gestaltung der Stunde kam bei fast jedem Mal eine neue Qigong-Übung hinzu; typischerweise wählte ich die erste oder die dritte Brokatübung (Abb. 2) oder die erste (Abb. 3), zweite (Abb. 4) oder vierte Ausdrucksform. Es folgten die Abschlussübungen nach Jiao (Abb. 5).

Abb 2_Qigong_Schule
Abb. 2: Die dritte Brokatübung „Stütze Himmel und Erde, reguliere Milz und Magen“

Für die Qigong-Übungen suchte ich Übungen im Stand oder in Schrittstellung aus, um Qigong auch rein äußerlich auf einer leicht erkennbaren Ebene von Taijiquan abzugrenzen; ich wies darauf hin, dass Qigong auch in Fortbewegung ausgeführt werden kann, zum Beispiel beim „Spiel der fünf Tiere“.

Jeweils am Anfang und Ende eines Quartals führte ich eine kurze schriftliche anonyme Befragung durch: warum sie sich für Qigong angemeldet hätten (meist Neugier oder „mein Inneres spüren“) und was sie sich wünschten (sich wohler fühlen, Stressabbau) bzw. was sie befürchteten (irgendwas „Peinliches“ machen müssen). Mein Fokus war, sie körperlich, geistig und seelisch so anzuleiten, dass ihnen Qigong Spaß machte und es ihren Bedürfnissen gerecht wurde. 90 min brauchen eine gute Aufteilung und es soll möglichst noch irgendwie „cool“ und abwechslungsreich sein. Dabei half mir Jiaos Ausspruch in seinem Buch Die 8 Brokatübungen: „Die Zusammensetzung eines Rezepts macht seine Wirkung aus, das einzelne Kraut wirkt oft ganz anders“. Ich entschloss mich also, die reine Lehre des Qigong zugunsten der Anpassung an die Altersgruppe 14 bis 16 Jahre etwas aufzulockern.

Reise in die Stille

In dem so entstandenen Konzept wird nach dem Qigong-Teil als zweiter Teil eine Entspannungseinheit im Sitzen oder Liegen auf der Bodenmatte eingeschoben. Wir machen zuerst langsame und sanfte Meridian-Dehnungsübungen, die auf den japanischen Lehrer Masunaga zurückgehen. Sie scheinen mir sehr geeignet, um einerseits die Beweglichkeit zu fördern – die Schüler in diesem Alter zeigen teilweise erhebliche Defizite in Beweglichkeit, Koordination und Konzentration – und andererseits über die Leitbahnen zu einer Art „Meditationseinheit“ überzuleiten. Ich verwende einige Zeit darauf, gerade den Schülern, die eventuell frustrierende Erfahrungen im Sportunterricht gemacht haben, nahezubringen, dass sanfte Dehnungen sehr angenehm sein können und innerlich mehr Raum schaffen. Es geht nicht darum, möglichst tief herunterzukommen, wie sie das meist bisher kannten, sondern darum, Dehnungen im persönlich angepassten Maß genießen zu können. Nach den Dehnungen lasse ich die Schüler eine Weile im Liegen im Körper nachspüren und schlage dazu eine große Klangschale an, deren Ton sie einige Minuten nachlauschen, selbst wenn der Klang schon vergangen scheint. Danach erhalten sie die Anweisung eine Hand auf den Bauch unter den Nabel zu legen und darauf zu achten, wohin der Atem fließt. Einige Minuten lang sind alle mäuschenstill.

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Abb. 3: Die erste Ausdrucksform „Reguliere den Atem, beruhige den Geist“

Da es bei jungen Leuten im Alltag relativ hektisch und laut zugeht, war es mir ein Anliegen, sie in die Ruhe zu führen (das hatte so ein bisschen was von „einen Sack Flöhe hüten“). In der allerersten Unterrichtsstunde war das auch nicht ganz einfach und es wurde gekichert. Danach habe ich die Ruhe sehr sorgfältig vorbereitet. Ich erklärte, dass die Übung freiwillig sei und dass es sein könne, dass manche sich vor der Ruhe fürchten und auch das in Ordnung sei. Ich ließ es frei, ob man sich hinlegen wollte, man durfte auch im Sitzen üben; wer die Augen nicht schließen wollte, konnte mit leicht geöffneten Augen üben. Ich stellte jedoch klar, dass es mir wichtig ist, dass diejenigen Schüler, die die Übung mitmachen wollen, nicht gestört werden und dass daher diejenigen, die nicht mitmachen wollen, solange rausgehen können, sich aber still verhalten müssen. Das hat sich sehr bewährt: Manchmal gehen in der ersten Stunde ein oder zwei Schüler raus oder ein oder zwei üben im Sitzen, alle anderen üben problemlos im Liegen. Beim zweiten Mal üben dann meist alle im Liegen.

Für die Schüler ist eine klare Linie wichtig; so können sie ihr Gesicht in der Gruppe wahren, auch, wenn sie gut mitmachen. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass die Schüler zuhören, wenn der Lehrer spricht. Sie brauchen eine kurze und einleuchtende Ansage, warum was wie abläuft.

Beweglichkeit und Koordination fördern

Nach der „Übung mit dem Gong“ kommt dann die Taijiquan-Einheit als dritter Teil und nur diesen Teil nehme ich in die Benotung. Im Taijiquan finde ich Kriterien, die mir für den Sportunterricht passend erscheinen: Der Ablauf ist recht anspruchsvoll in der Koordination, da die Übungen in Fortbewegung ausgeführt werden; das finde ich in gewisser Weise vergleichbar mit einer Übung im Bodenturnen. Durch die speziellen Gewichtsverlagerungen werden Gleichgewicht, Raumorientierung und Haltung sehr gut geübt und die Schüler müssen sich wirklich bemühen, können es aber gut schaffen. In den sechs bis sieben Doppelstunden lernen sie die ersten fünf bis sechs Bilder der sogenannten Beijing-Form mit 24 Bildern.

Abb 4_Qigong_Schule
Abb. 4: Die zweite Ausdrucksform „Teile die Wolken, senke den Mond“

Als Bewertungskriterien nehme ich den korrekten Ablauf der Bewegungsfolge, die Genauigkeit bei der Ausführung, die Koordination zwischen Armen, Beinen und Gewichtsverlagerung, die Entsprechung von innen und außen sowie die Kontinuität der Aufmerksamkeit; auch die Namen und die Bedeutungen der Übungsbilder sollen bekannt sein. In diesem Teil üben wir mit der chinesischen Standardmusik; das wird in der ersten Stunde meist recht gemischt kommentiert. Ab der zweiten Stunde bestehen sie auf der Musik.

Der Qigong- und der Entspannungsteil werden nicht benotet, da sie ausschließlich der Selbsterfahrung dienen sollen. Tatsächlich ist bekannt, dass man beim Qigong recht gute Noten bekommt und ich eher großzügig bin; das ist Absicht, denn ich will auch den Mut derjenigen belohnen, die Qigong ausprobieren. Besonders schätze ich, dass jeder freiwillig da ist; man hätte ein anderes Fach wählen können.

Insgesamt kann ich sagen, dass Qigong sehr gut angenommen wird und bei einigen Schülern zeigen sich erstaunliche Fortschritte, zum Teil auch gerade bei denjenigen, die sonst eher weniger gute Erfahrungen beim Sport gemacht haben. Die Schüler bekommen außerdem konkrete Vorschläge, an welcher Stelle ihres Alltags sie das Gelernte einsetzen können, aber das nutzen nur die wenigsten.

Inzwischen läuft Qigong bereits über sieben Schuljahre, immer im zweiten und/oder dritten Quartal im Wechsel mit Leichtathletik, die im ersten und vierten Quartal stattfindet. Die Abschlussauswertungen ergaben, dass zu 85% die „Übung mit dem Gong“ als Lieblingsübung benannt wird. Die absolute „Anti-Übung“ ist das Stehen wie ein Baum. Auch das Einlaufen mögen nicht alle so sehr. Manche bevorzugen Qigong, andere eher Taijiquan. Jedenfalls finden es alle sehr gut, dass sie beides kennenlernen können.

Mein ganz persönliches Erfolgserlebnis habe ich dann, wenn die Schüler sich aus der Ruhe-Einheit im Liegen langsam wieder aufsetzen und man ihnen ansieht, dass sie „irgendwo“ waren, wo es ihnen richtig gut ging. Sie haben dann besonders freundliche und friedliche Gesichter. Dann denke ich jedes Mal: Das hat sich gelohnt. Ich glaube, die Schüler bemerken es kaum, aber sie sind immer ganz aufgeräumt, wenn sie meinen Unterricht verlassen.

Abb 5_Qigong_Schule
Abb. 5: Abschlussübung „Reibe die Shenshu-Punkte“

Bei der Eingangsbefragung erkundige ich mich jedes Mal auch nach ihrer körperlichen, seelischen und geistigen Befindlichkeit, das heißt, nach Ausdauer und Beweglichkeit, „wie kommst du mit dir selbst klar“, Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit. Das Ergebnis ist meist, dass sich selbst nach der kurzen Zeit im Durchschnitt eine kleine Verbesserung um eine Viertelnote in ihrer Selbsteinschätzung zeigt (zum Beispiel von 3 auf 2-). Auch wenn das nur als Tendenz zu werten ist, finde ich es erfreulich.

Bei den Schülern, die in Klasse 10 wieder zu mir ins Qigong kommen, lassen sich zwei Beobachtungen machen: Entweder hatten sie richtig Spaß daran, dann machen sie extrem gut mit und motivieren die anderen oder aber sie schwänzen mehrmals, weil sie meinen, schon alles zu können. In solchen Fällen muss ich dann die Noten geben, die ich sonst vermeide, da die verbindliche Übereinkunft ist, dass unentschuldigtes Fehlen am Benotungstag eine ungenügende Leistung zeigt. Natürlich gibt es auch mal Murren, aber manche Schüler haben hier ihre ersten positiven Erfahrungen mit ihrem Körper, mit Sportunterricht und mit Sportnoten.

Apropos was „Peinliches“ machen müssen: In den ersten Jahren hatte ich versucht, die Schüler für meine Idee zu gewinnen, bei der Schulabschlussfeier etwas vorzuführen. Dazu hatte ich ihnen die Kurzform 9 Bilder Taiji-Fächer oder 9 Bilder Taiji-Schwert vorgeführt. Das hatte ihnen zwar sehr gefallen, aber selbst etwas vorführen, das wollten sie absolut nicht.

Klares Feedback

Die Realschüler haben mich insgesamt durch ihre Aufgeschlossenheit beeindruckt; sie sind in Klasse 9/10 bereits die „Großen“ an der Schule. In Klasse 9/10 am Gymnasium hingegen ist man meines Erachtens eher noch im Mittelstufen-Rüpelalter und es herrscht eher Desinteresse am Qigong. Das ändert sich erst in den Abitursklassen: In den Jahren 2008-11 habe ich für die 13. Klassen „Qigong zur Stressbewältigung im Abitur“ angeboten. Nach Einführung des achtjährigen Gymnasiums ist dafür keine Zeit mehr.

Ein Hauptgrund, warum ich gerne mit Schülern arbeite, ist, dass ich den Ausbau zur Ganztagsschule als körperfeindlich empfinde. Selbst für Schüler, die gerne lernen, sind zehn Stunden auf dem gleichen Stuhl eine Extrembelastung, sie verlieren die Lust am Lernen oder funktionieren nur noch. Mit Qigong als Pause haben sie etwas, das sie wieder aufbaut – jedenfalls, wenn sie es nutzen. Bei einigen der Abiturienten hat sich das regelmäßige Üben wirklich bewährt, sie fühlten sich gut gestärkt in der Prüfungszeit.

Eine große Freude an der Arbeit mit Jugendlichen ist für mich das direkte Feedback; man merkt sofort, ob man sie erreicht oder nicht. Mir macht es sehr viel Spaß und ich lerne sehr viel von ihnen. Für mich selbst ist diese Arbeit ein willkommener Ausgleich, da ich sonst meist Erwachsene unterrichte (und auch ausbilde) und ich mit meinem Schwerpunktthema „Qigong und Quantenphysik“3,4 eher Erwachsene anspreche. Ich möchte hiermit zur Nachahmung anregen.

Autorin: Dr. Imke Bock-Möbius

Fotos: Dr. Imke Bock-Möbius

Dieser Artikel ist zuerst in Taijiquan und Qigong Journal (TQJ) 3/2013 erschienen. Das TQJ ist Kooperationspartner von taiji-forum.de.

Quellenangaben

1) Jiao Guorui: Qigong Yangsheng; Gesundheitsfördernde Übungen der traditionellen chinesischen Medizin. Uelzen 1988

2) Bock-Möbius, Imke: Qigong – Meditation in Bewegung. Heidelberg 1993

3) Bock-Möbius, Imke: Qigong meets Quantenphysik. Das Prinzip Einheit erleben. Oberstdorf 2010

4) Bock-Möbius, Imke: Interview beim Londoner Fernsehsender Conscious.tv am 8. März 2013. Link: http://bcove.me/8raisy6q