Tai Chi im Alltag – intensives Training für jedermann
Wer Tai Chi übt und sich wesentlich verbessern möchte, darf nicht nur einmal oder zweimal in der Woche eine Trainingseinheit absolvieren. Die dort eingeübten Bewegungen stehen in keinem Verhältnis zu den ungesunden, verkrampften und verschleißenden Bewegungen und Haltungen, die täglich über mehrere Stunden ausgeführt werden. Wer echte Fortschritte erzielen will, muss seinen Alltag in ein Tai Chi-Training verwandeln, um die über Jahre eingeschliffenen schweren Bewegungen und Haltungen gegen die leichten und kraftvollen Bewegungen und Haltungen des Tai Chi auszutauschen. Das erfordert Kreativität, Spontanität und das Wissen über die Prinzipien des Tai Chi.
Immer mehr Arbeitsplätze werden mit Computern ausgestattet. Die Privathaushalte werden mit großen Fernsehgeräten, DVD-Playern und Home-Entertainment überschwemmt. In vielen Wohnungen ist der Fernseher das Zentrum der Wohnzimmereinrichtungen. Einkäufe werden mit dem Auto erledigt und auch für Ausflüge ins Grüne bleibt der moderne Mensch lieber in seinem Auto und fährt über die Landstraßen, statt über Wiesen oder durch Wälder zu wandern. Der Trend zu immer mehr Sitztätigkeiten ist enorm gewachsen. Damit einher auch die Anzahl derjenigen, die über Rückenschmerzen, Bewegungsunfähigkeit, Kopfschmerzen, Knieprobleme etc. klagen. Es gibt inzwischen eine Fülle an Ratgeberliteratur und Präventionsangeboten, doch die besten Ratschläge und die ausgereiftesten Trainingsprogramme nützen nichts, wenn sie nicht konsequent befolgt werden. Tai Chi wird oft als eine Präventionsmaßnahme gegen Haltungsschäden oder Bewegungsfehler angeboten. Darüber hinaus ist Tai Chi eine Kampfkunst und ermöglicht eine tiefe mentale Entspannung. All dies kann aber nur dann voll zur Geltung kommen, wenn Tai Chi regelmäßig geübt wird. „Regelmäßig“ heißt zwar, intensive Trainingseinheiten zu absolvieren. Es heißt aber auch – und das ist viel wichtiger – dass so oft wie möglich geübt werden muss. Das beste regelmäßige Training ist der Alltag, in welchem man jederzeit seine Bewegungen und Haltungen kontrollieren und verändern kann. Die über Jahre eingeschliffenen Bewegungsmuster können nicht „über Nacht“ abgelegt werden. Es erfordert ein Höchstmaß an Disziplin und Achtsamkeit, um mithilfe der Tai Chi-Prinzipien verschleißarme, entspannte und kraftvolle Bewegungen bzw. Haltungen zu initiieren, über die nicht mehr nachgedacht werden muss, sondern die der Körper automatisch als Gewohnheit ausführt.
Tai Chi – mehr als Solo- und Partnerübungen
Während die Soloübungen dazu dienen, die eigenen Energien optimal zu steuern bzw. überhaupt erst einmal wahrzunehmen, dienen die Partnerübungen dazu, fremde Energien wahrzunehmen und zu steuern. Dies setzt jedoch eine grundlegende Kenntnis über die eigenen Energien voraus. Erst wenn der Umgang mit den eigenen Kräften optimiert ist, können fremde bzw. äußere Energien manipuliert werden. Deswegen dienen Partnerübungen zwei Zielen: zum ersten der Kontrolle äußerer Kräfte, zum zweiten der Kontrolle eigener Kräfte im Umgang mit den äußeren.
Gerade die Tai Chi-Schulen im Wellness-Bereich legen den Schwerpunkt auf Einzelübungen und vernachlässigen die Partnerübungen. Dadurch steigt die Gefahr, falsche Bewegungen zu internalisieren, weil die Korrektheit der Ausführung nicht geprüft werden kann. Das bedeutet, dass das Wesen des Tai Chi nicht erfasst werden kann. Tai Chi war ursprünglich eine Kampfkunst und demzufolge auf Partnerübungen bzw. auf die Anwendung von bestimmten Prinzipien an und mit einem Gegenüber spezialisiert. Deswegen sollten Partnerübungen beibehalten werden, auch wenn der Kampfkunst-Aspekt keine große Rolle mehr spielt. Nur wenn es möglich ist, einem äußeren Druck mithilfe der Tai Chi-Prinzipien standzuhalten, erhält der Körper die Rückmeldung, dass er auf dem richtigen Weg ist.
Darüber hinaus ist Tai Chi aber noch mehr als eine Ansammlung von Einzel- oder Partnerübungen. Es enthält grundlegende Bewegungsprinzipien und Deutungsmuster, mit denen das, was im Training erlernt wird, auf den Alltag transferiert werden kann. Diese Transferfunktion ist im modernen Alltag unabdingbar, wenn echte Fortschritte im Training erreicht werden wollen. Durch die Solo- und Partnerübungen können Haltungsfehler und ungünstige Bewegungsmuster entdeckt werden. Diese wurden in der Regel über Jahre hinweg eingeschliffen, weil sie täglich immer wieder ausgeführt wurden. Das Tai Chi-Training liefert anschauliche Korrekturen, so dass das, was über Jahre konditioniert wurde, aufgebrochen werden kann. Die Basis dafür sind die Tai Chi-Prinzipien.
Die Bewegungsprinzipien – Essenz für den Alltag
Tai Chi zeichnet sich dadurch aus, dass es auf Entspannung beruht und Kraft nicht als „rohe Muskelkraft“ erzeugt, sondern auf einem elastischen Wege über die Sehnen und Bänder. Das ist nicht nur gesünder, sondern erlaubt auch vermeintlich schwächeren Menschen große Kräfte freizusetzen, ohne ein intensives Muskelaufbautraining absolvieren zu müssen. Damit die Tai Chi-Bewegungen den Charakter des Tai Chi erhalten und nicht auf den Level einfacher Gymnastikbewegungen reduziert werden, muss der Übende bestimmte Prinzipien einhalten. Diese hat Yang Chengfu (1883-1936) auf zehn „Gebote“ zusammengefasst:
- Den Kopf entspannt aufrichten.
- Die Brust zurückhalten und den Rücken gerade dehnen.
- Das Kreuz locker lassen.
- Die Leere und die Fülle auseinander halten.
- Die Schultern und die Ellenbogen hängen lassen.
- Das Yi und nicht die Gewaltkraft anwenden.
- Die Koordination von oben und unten.
- Die Harmonie zwischen innen und außen.
- Der ununterbrochene Fluss.
- In der Bewegung ruhig bleiben.
Wer diese zehn Regeln konsequent befolgt, richtet seinen Körper gemäß den physikalischen Gesetzmäßigkeiten optimal aus und setzt den geistigen Fokus auf das Hier und Jetzt. Er ist also mit Körper, Geist und Seele ein Wesen des Augenblicks und kann federleichte, aber dennoch kraftvolle Bewegungen ausführen. So können Fehlhaltungen oder energiezehrende Bewegungen korrigiert werden. Die Basis für positive Veränderungen ist allerdings beständiges Training und Selbstreflexion. Es ist wichtig, sich im Alltag immer wieder zu beobachten, um feststellen zu können, wie man sich bewegt bzw. ob die obigen Prinzipien umgesetzt werden. Alle Bewegungsprinzipien dienen der Entwicklung einer optimalen Körperstruktur, mit der äußere Kräfte mühelos umgelenkt werden können und eigene Kraftwirkungen so auf die Gesamtheit des Körpers verteilt werden, dass sie den Bewegungsapparat schonen und entspannte, kraftvolle Bewegungen ermöglichen. Dies liegt vor allem an der Nutzung der Tiefenmuskulatur, Sehnen, Bänder und Faszien sowie an der effektiven Nutzung der Schwerkraft. Für eine Bewegung werden nur jene Körperteile aktiviert, die wirklich notwendig sind, um bei minimalem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen. Alles, was über das Ziel hinausgehen würde, würde Verkrampfungen, Blockaden oder Schmerzen verursachen.
Mit Achtsamkeit jeden Tag meistern
Die Bewegungsprinzipien können zwar theoretisch nachvollzogen werden. Um sie aber anwenden zu können, müssen sie im Training entweder einzeln geübt werden oder aus der Form oder anderen Tai Chi-Übungen herausgearbeitet werden. Hat man einmal solch ein Bewegungsgefühl erfahren, ist es nicht schwer, es sich in Erinnerung zu rufen und nach anderen Situationen Ausschau zu halten, in denen dieses Gefühl bzw. die Bewegungsprinzipien erfahrbar gemacht werden können. Je mehr Situationen der Körper durchlebt, in denen bewusst auf Haltung oder Bewegung geachtet wird, desto besser können verschleißende Bewegungs- bzw. Haltungsmuster ausfindig und gegen die Tai Chi-Muster eingetauscht werden. Dies erfordert nicht nur ein intensives Tai Chi-Training, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Alltag. Folgende Fragen können helfen, mit Tai Chi den eigenen Bewegungen auf die Schliche zu kommen:
- Welche Bewegungen führe ich immer wieder aus?
- Führe ich diese Bewegungen tatsächlich immer gleich aus?
- Wo beginnt eine Bewegung, wo endet sie?
- Wie wird eine Bewegung gesteuert?
- Wie stehe, sitze oder liege ich im Moment?
- Wo fühle ich Verspannungen, Härte oder Anstrengung?
- Welche Bewegungen fallen besonders schwer?
- In welchen Situationen bin ich besonders angespannt?
Bewegungen sind kein Körperprogramm, welches nur auf der physischen Ebene arbeitet. Bewegungen entstehen durch Absichten und geistige Haltungen. Ein eifriger Mensch eilt beispielsweise hektisch durch die Straßen und ein eher träger Mensch wird sich von Bein zu Bein wuchten. Beide Beispiele sind Extrema und sollten vermieden werden, da sie die Gelenke unnötig belasten. Im Tai Chi werden Bewegungen aus der Körpermitte organisiert, um alle Körperteile an einer Bewegung oder Haltung zu beteiligen. Dadurch wird der Körper als physische Einheit bewegt, was einzelne Bewegungen oder Haltungen erleichtert. Dies gelingt jedoch nur, wenn hinter der Körperarbeit der Geist auf entsprechende Bewegungen konditioniert wurde, was wiederum mittels Übung und Wiederholung erreicht wird. Je mehr die Tai Chi-Prinzipien in den Alltag integriert werden und je öfters sich der Körper gemäß den Tai Chi-Prinzipien bewegt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass der Körper die Bewegungen automatisiert ausführt, so dass später überhaupt nicht mehr an Tai Chi oder Tai Chi-Prinzipien gedacht werden muss. Das Wissen und die Fähigkeiten wurden dann internalisiert und sind fester Bestandteil des Lebens. Um zu diesem Punkt zu gelangen, sollten so viele Situationen des Alltags wie möglich genutzt werden, um Tai Chi zu üben.
Übungsimpulse
Der wichtigste Übungsimpuls, um Tai Chi auch im Alltag zu trainieren, besteht darin, mit der Achtsamkeit den eigenen Körper abzuscannen und nach Blockaden zu suchen. Verspannungen und Schmerzen deuten darauf hin, dass an den betroffenen Stellen Blockaden vorliegen. Der zweite Übungsimpuls besteht darin, diese Blockaden durch bewusstes Entspannen zu lösen. Eine typische Stelle, die immer wieder verspannt, ist der Schulter-Nacken-Bereich. Viele Menschen ziehen ihre Schulten unnatürlich hoch oder ziehen sie nach vorne. Dadurch wird eine permanente Muskelleistung erfordert, die in einer Verspannung mündet. Durch das Bewusstwerden dieser ungünstigen Haltung erkennt der Körper von selbst, dass diese Haltung nicht gut ist. Im Korrekturprozess kann er durch gezielte Entspannung unterstützt werden. Beispielsweise kann es helfen, sich die verspannten Muskeln als Eisberge vorzustellen, die unter der Einwirkung von Sonnenlicht dahinschmelzen.
Neben der Beobachtung des eigenen Körpers inklusive einer bewussten Entspannung der betroffenen Stellen ist es möglich, die Tai Chi-Prinzipien gezielt in Alltagssituationen anzuwenden. Wenn der Körper beispielsweise für eine längere Zeit sitzen muss, kann man auf die korrekte Haltung der Schultern, des Rückens und des Kopfes achten. Im Stehen ebenso: Dabei kann die Verteilung des Körpergewichts auf beide Füße optimiert werden. Während des Gehens kann das Bewegen aus der Körpermitte kultiviert werden und wenn man aus einem Auto aussteigt, kann man darauf achten, dies gemäß den Tai Chi-Prinzipien zu tun, statt sich einfach aus dem Wagen fallen zu lassen. Die Übungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt und jeder kann mit ein wenig Vorstellungskraft überall Trainingsgeräte finden.
Buchhinweis
Wie Tai Chi im Alltag geübt werden kann, welche Prinzipien in der chinesischen Kampf- und Bewegungskunst verborgen sind, wie hemmende Bewegungen erkannt und transformiert werden können, und wie man sich selbst überprüfen kann, um die Körperstruktur immer wieder neu auszurichten, erklärt der Autor in seinem neu erschienenen Buch „Das Tai Chi-Feeling mit Übungen für den Alltag: Blockaden lösen & Bewegungen optimieren.“ Fernab mystifizierender Begriffe beschreibt er die Hürden des modernen Alltags und weist zugleich auf die vielen Trainingsmöglichkeiten hin, die der Alltag bietet. Ausgehend von der Beobachtung, dass nur ein kontinuierliches Training zur Neuprogrammierung von Bewegungs- und Haltungsmustern führen kann, wird in dem Buch anhand vieler abwechslungsreicher Übungen und theoretischer Hintergründe das Wesen des Tai Chi betrachtet, um den Lesern einen komfortablen Weg aufzuzeigen, wie sie ihr Tai Chi noch effizienter üben können.
Das Buch ist in allen Buchhandlungen sowie in Online-Geschäften und beim Komplett-Media-Verlag (Edition Faszination Fitness) für 16,95 € erhältlich. Demnächst können Sie das Buch auch hier direkt im Shop bestellen.
Informationen zum Buch
Titel: Das Tai Chi-Feeling mit Übungen für den Alltag.
Autor: Christoph Eydt
Verlag: KOMPLETT-MEDIA GmbH
ISBN: 978-3-8312-0414-4
Preis: 16,95 €
Erscheinungsort, Jahr: München / Grünwald, 2014
Autor: Christoph Eydt
Fotos: taiji-forum.de, KOMPLETT-MEDIA GmbH und Matthias Wagner