Cheng Hsin

Cheng Hsin: Peter Ralstons „Kunst müheloser Stärke“

„Nur die Schwerkraft zieht mich etwas runter“.

Alexander Gerst, Astronaut, nach seiner Landung auf der Erde über Twitter

Peter Ralston

Ralston
Peter Ralston entwickelte „Cheng Hsin“, die „Kunst müheloser Stärke“
Cheng Hsin: Brendan Lea, Kyu-Prüfung 2015

Meister Peter Ralston (* 1949) wuchs an verschiedenen Orten in Ostasien auf und begann sein Studium der Kampfkunst im Alter von 9 Jahren. Mit 19 hatte er bereits schwarze Gürtel in Judo, Jujitsu und Karate, war sowohl Sumo-Meister in seiner Highschool in Japan, als auch Fechtmeister der University of California in Berkeley gewesen. Hinzu kamen Erfahrungen in vielen Gong Fu Stilen. In diesem Alter entdeckte er dann die „inneren“ Kampfkünste für sich und lernte Taijiquan (Tai Chi Chuan), Baguazhang (Pa Kua Chang), und Xingyi Chuan (Hsing I Chuan), die er fortan mit besonderer Aufmerksam lernte. Gemäß der Devise seines Lehrers Wong Jack Man „Lerne immer von den Besten“ suchte er in jeder Kunst nach den herausragenden Lehrern. In diesem Sinne lernte er Tai Chi Chuan unter anderem bei Großmeister William Chen. Im Laufe der Zeit verbreiterte er seine Fähigkeiten mit Künsten wie Aikido, westlichem und Thai Boxen (Muay Thai), die ihm neue Einsichten und Perspektiven auch im Hinblick auf alle anderen Kampfkünste erbrachten. 1978 bewies er seine überlegenen Fähigkeiten mit dem Gewinn der Vollkontakt Weltmeisterschaft auf Taiwan.
Seit Mitte der 1970er Jahre wurde ihm der Rahmen der traditionellen Kampfkünste zu eng. Um seinen Erkenntnissen und Entdeckungen eine Form zu geben, die den von ihm entdeckten Prinzipien des Körper-Seins und der Interaktion angemessen wäre, entwickelte er „Cheng Hsin“, die „Kunst müheloser Stärke“. 1977 eröffnete er das erste Trainingszentrum, die „Cheng Hsin School of Internal Martial Arts and Center for Ontological Research“ in Oakland in Kalifornien.
Parallel mit der kampfkünstlerischen Entwicklung vertiefte er sich in Zen-artige Kontemplation und experimentierte mit verschiedenen Methoden, die Ende der 60er Jahre in San Francisco und Umgebung gerade ausprobiert und entwickelt wurden. Lange Perioden intensiver Kontemplation führten ihn zu tiefgreifenden Erleuchtungserfahrungen über die Natur von Selbst und Realität. Diese Erfahrungen erschlossen ihm nicht nur kampfkünstlerisch neue Wege und Dimensionen, sondern wurden die Basis der Bewusstheitsarbeit („Ontology“), die das zweite Standbein der Cheng Hsin Schule wurde.
Seit den 70er Jahren unterrichtet er nun Cheng Hsin weltweit auf verschiedenen Workshops, seit 1990 auch in Europa, und inzwischen auch regelmäßig in Deutschland. Daneben versucht er seine Einsichten auch schriftlich zu kommunzieren und hat inzwischen sieben Bücher geschrieben, von denen bisher zwei ins Deutsche übersetzt wurden. Das erste davon,“The Principles of Effortless Power“ von 1989, gilt inzwischen als Klassiker unter den Schriften der inneren Kampfkunst. Zuletzt erschien 2015 „Pursuing Consciousness“.
Peter Ralston lebt inzwischen in der Nähe von San Antonio auf dem Land und unterhält dort ein kleines Dojo, in dem er verschiedene Workshops und Programme für seine Schüler anbietet.

Entstehung und Entwicklung von Cheng Hsin

Die Enstehung von Cheng Hsin
Da Ralston in jeder seiner Künste schnell zu den Besten seiner Klasse zählte, fing er entsprechend früh an, auch andere in diesen Künsten zu unterrichten. Dabei stellte sich für ihn im Laufe der Zeit heraus, dass er zwar innerhalb einer Kunst viele verschiedene Formen, Techniken und Erfahrungen an seine Schüler weitergeben konnte, nicht aber das, was seine eigenen Fähigkeiten eigentlich ausmachte: die Einsicht in die Komponenten und Prinzipien zwischenmenschlicher Interaktion (zumindest beim Kampf). Das Korsett der traditionellen Kampfkünste mit den Formen und Techniken erwies sich als zu eng und unzureichend, um die (eigentlich formlosen) Prinzipien aufzunehmen. Ralston unterrichtete „Cheng Hsin“ zunächst nur als reine Prinzipienarbeit, (dazu zählen etwa. Nachgeben, Folgen, Führen, etc), d.h. als freies improvisiertes Interaktionsspiel. Erst als sich im Laufe der Zeit zeigte, dass den Schülern ganz ohne technisches Training und Verständnis die Orientierung und „Erdung“ in der Interaktion fehlten, begann Ralston damit, viele ihm aus dem Tai Chi, Aikido und Judo bekannten Techniken neu zu erfinden und somit eine Kunst zu entwerfen, in der sich technisch-formale und formlos-improvisierende Anteile zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen sollten. Obwohl es nie seine Absicht gewesen war, eine neue Kampfkunst zu entwickeln, wuchs Cheng Hsin über die Jahre zu einem eigenständigen System mit einem breiten Kanon von Techniken und Skills („Fertigkeiten“), inklusive eines Graduierungssystems zur Überprüfung und Einordnung des Lernfortschritts der Schülerschaft. Erst ab Mitte der 2000er Jahre begann Ralston selbst, das System als soweit gereift und „rund“ zu empfinden, dass es sich eigen- und vollständig, also als „fertige“ Kunstform anfühlte.

Cheng Hsin Prinzipien

Der erste Grundsatz der Mühelosigkeit ist das Loslassen. Im Loslassen lassen wir die Dinge, wie sie sind. Wenn wir die Dinge lassen, können sie sich nach ihrer Art frei entfalten. „Mühelos“ ist, wenn es gelingt, diese sich von selbst entfaltende Eigenart der Dinge im eigenen Sinne zu nutzen. Dies ist die Bedeutung des Slogans: „Ersetze Kraft durch Intelligenz“.

Körper-Sein und mühelose Stärke

Beim Loslassen bleibt am Ende das übrig, was von sich aus schon vorhanden ist. Auf der körperlichen Ebene äussert sich Loslassen als Entspannung. In der vollständigen Entspannung enthüllt sich der Körper als ein zusammenhängendes Ganzes: Der Körper ist ohne eigenes Zutun immer schon eine zusammenhängende Einheit, so sehr, dass das sogar nach dem Tod noch für geraume Zeit richtig ist. Diesen Zusammenhalt des Körpergewebes nennen wir die „intrinsische Stärke“.
Der Körper ist also ein ganzer Körper und existiert als Objekt im dreidimensionalen Raum. Insofern unterliegt er den Regeln der Physik. Wie für jeden sich bewegenden physikalischen Körper rückt damit das Zentrum des Körpers in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Zentrum versammeln sich die physikalischen Richtwerte des Ganzen, so sehr, dass die (Fort-) Bewegung des ganzen Körpers allein als Bewegung eines Massepunktes im Zentrum beschrieben werden kann, und das Zentrum gleichzeitig das Zentrum jedweder Rotation wird.
Weiterhin existiert der ganze Körper (im Allgemeinen, siehe Eingangszitat) auf der Oberfläche eines Planeten, und ist damit permanent der Schwerkraft unterworfen. Das Verhältnis zur Schwerkraft wird daher einen überragenden Teil unserer körperlichen Fähigkeiten ausmachen.
Der Körper ist aber ein Körper nicht nur im physikalischen Sinne, sondern ein belebter und bewusster Körper: er ist ja mein Körper. Das Prinzip des Loslassens und der Entspannung zeigt sich im Bereich des Bewusstseins in einem offenen, klaren und ruhigen Geist. Diese Form von Gelassenheit ist nicht zu verwechseln mit träger und indifferenter Müdigkeit, sondern meint eine wache Präsenz, die offen für jegliches Geschehen ist, also frei von Vorurteilen, Erwartungen und Ängsten. Weiterhin folgt aus dieser Jemeinigkeit, dass jeweils ich die Wahl habe, wie ich über den Körper verfüge und ihn einsetze: Im Einklang mit den Grundtatsachen und unter Bejahung von Entspannung, Ganzheit, Zentrum, Erde und Ruhe, oder eben nicht. Ein müheloses und effektives Körper-Sein wird sich definieren müssen über eine entspannte und einheitliche Bewegung des ganzen Körpers aus dem Zentrum unter maßgeblicher Nutzung der Schwerkraft als Quelle der Bewegung bei offenem Geist.
Mühelose Stärke entsteht, wenn es gelingt, die in der Ganzheit beschlossene intrinsische Stärke zielgerichtet zu nutzen. Dabei soll nicht allein der eigene Körper bewegt werden, sondern gerade auch der Körper des Partners im Push, Punch oder Wurf.
Die intrinsische Stärke eines Dinges ist sein Zusammenhalt und zeigt sich in der Verformung, der Kompression oder im Stretch des Materials aus dem es besteht. Kompression und Stretch meinen dabei gleichzeitig auch die Gegenkraft, die den Körper in seine Ausgangs- und Ruheform zurückzieht oder drückt. Die Nutzung der intrinsischen Stärke bedeutet also, den eigenen Körper derart komprimieren und/oder stretchen zu lassen, dass die (vollständig passive) Rückstellkraft die Arbeit verrichtet. Im Kontext des Spielens mit einem Partner auf der Matte besteht die Kunst also darin, meinen Körper so zu bewegen, dass er von meinem Partner in den Boden komprimiert wird. Dazu muss der Körper in eine Gestalt gebracht werden, die eine ununterbrochene Kraftkette vom Kontaktpunkt in den Boden ermöglicht (Alignment). Die Kraft, die meinen Partner bewegt, ist die Rückstellkraft meines komprimierten Körpergewebes. Die Aktivität liegt in meiner Bewegung, und zwar derart, dass die Kompression in den Boden hinein geschehen kann. Ich brauche nichts halten, nichts schieben, nichts tragen, sondern nur für die angemessene Bewegung meines eigenen Körpers zu sorgen, so dass die gratis zur Verfügung stehende intrinsische Stärke (Kompression/Stretch) in meinem Sinne wirksam wird.

Video: Peter Ralston demonstriert „effortless power“

Prinzipien der Interaktion

Wie äussert sich das Prinzip des Loslassen in der Beziehung zu einem Partner, also einem aktiven, bewussten und planmäßig handelndem Gegenüber?
Das Sein-lassen des Partners äußert sich hier als das Prinzip, meinem Partner nicht im Wege zu stehen, und ihn machen zu lassen, was er will: Nachgeben (Yielding). Das vollständige Nachgeben, ohne jeden Widerstand ist die Grundlage für die mühelose Interaktion. Nur im vollständigen Nachgeben kann sich die Bewegungsenergie des Partners voll entfalten und dadurch für mich nutzbar sein. Blocken, Absorbieren, Umleiten unterbrechen nicht nur den Bewegungsfluss des Partners, sondern schlimmer noch, sie entmutigen ihn, mit seiner Handlung fortzufahren. Was mein Partner aber braucht, ist Unterstützung für das, was er tut, damit ich seine Energie und seine Intention im Spiel auf der Matte für mich nutzen kann. Bedingungsloses Nachgeben, bei dem ich keinerlei Druck auf meinen Körper zulasse, ist die Grundlage für ein reibungsloses Spiel mit den Bewegungen, Intentionen und Kräften meines Partners. Im Nachgeben befreie ich mich gleichzeitig von meinen eigenen reaktiven Tendenzen und bin frei für eigene Aktionen.
Je besser und präziser das Nachgeben, desto mehr werden meine eigenen Aktionen schon im Einklang mit der Bewegung des Partners sein. In diesem Kontext können jetzt die verschiedenen Cheng Hsin Interaktionsprinzipien in Aktion treten, hier seien nur Leading (Führen), Following (Folgen) und Joining (Fügen) erwähnt.
Im Leading nutze ich die Tatsache, dass mein Spielpartner etwas von mir will, und bereit ist, in Aktion zu treten, um es zu bekommen. Das, was mein Partner will, ist mein Körper, mit dem er etwas anstellen will. Daraus folgt, dass ich durch Bewegung meines Körpers eine mehr oder weniger bestimmte Bewegungen meines Partners hervorrufen kann. Bewege ich mich von ihm weg, muss er mir folgen (oder seine Pläne ändern). Will er mich schlagen und ich bewege mich einen Zentimeter nach links, dann hat er keine Wahl, als mich einen Zentimeter weiter rechts zu schlagen, oder aber die angepeilte Stelle zu verfehlen. Je nach dem Maß der Geschicklichkeit, mit der ich die Intention des Partners lesen kann, kann ich so seine Bewegung von grob bis sehr fein steuern. Leading hat ein spezielles Timing, es muss immer vor dem Nachgeben erfolgen, denn im Gegensatz zum Neutralisieren möchte ich, dass mein Partner mir folgen kann, und die ihm von mir zugedachte Bewegung freiwillig durchführt.
Leading ist ohne Following nicht möglich. Nicht nur, dass der Partner, um geführt zu werden, folgen muss – auch der Führende muss dauernd folgen, denn geschicktes Führen setzt voraus, dass ich weiss, was für meinen Partner attraktiv ist, wie weit er gehen würde um mein Angebot anzunehmen, wie deutlich er die Gelegenheit sieht, und immer so weiter. Following bedeutet, nicht nur alle Bewegungen des Partners wahrzunehmen, sondern auch in eigene Bewegung umsetzen zu können. Das Timing für Following ist die Gleichzeitigkeit. Folgen heißt, zu werden wie ein Schatten. Damit wird Following zu der maßgeblichen Bewährungsprobe für Präsenz in der Interaktion.
Die Möglichkeit zum Joining eröffnet sich, sobald durch Nachgeben und Folgen ein reibungsfreier und gemeinsamer Bewegungsfluss hergestellt wird. Durch Einfügen meiner eigenen in die Bewegung des Partners entsteht eine neue Bewegungseinheit. Diese neue Ganzheit kann dann über kleinste Impulse gesteuert werden: Nur wenn und nachdem ich mich völlig reibungslos in Bewegung und Absicht meines Partners eingefügt habe, kann ich über das zusammengefügte Ganze so verfügen, dass mein Partner sich dem Fluss des Ganzen willig fügen wird, als wäre es sein eigener freier Beschluss gewesen. Die zum Joining gehörende emotionale Grundeinstellung ist das Helfen. Ich helfe meinem Partner dabei, das zu tun, was er in gerade diesem Augenblick tun will. Im Helfen liegt nicht nur das reibungslose Einfügen in die Bewegung und die Absicht des Partners, sondern auch die Intention, etwas zu dieser Bewegung beizutragen. Als Helfen ist dieser Beitrag von vornherein in Harmonie mit den Handlungen meines Partners. Ist das Helfen schließlich so gut, dass meinem Partner sämtliche Arbeit abgenommen ist, kann die gemeinsame Bewegung leicht und mühelos in eine mir genehme Richtung fortgeführt werden, so dass sich das von mir gewünschte Resultat ergibt.

Video: Peter Ralston spricht über Joining (Ausschnitt aus dem „Discovery-Interview“)

Cheng Hsin Trainingspraxis

Das natürliche Medium der geschilderten Prinzipien ist das Spielen. Im Spielen sind wir offen für neue Erfahrungen, wir können angstfrei experimentieren und in der nötigen Ruhe die Dinge studieren, Korrekturen machen, Hypothesen aufstellen und verwerfen und uns den Prinzipien öffnen. Loslassen als A und O aller Prinzipien übt sich für den Anfänger am Besten in einer Athmosphäre, die zunächst möglichst wenig an „Kampf“ und „Selbstverteidigung“ erinnert, sondern in der positiven Freude an der körperlichen Interaktion mit dem Partner. Gerade Anfänger machen die größten Fortschritte, wenn sie eher an „Tanzen“ als an „Kämpfen“ denken. Dass der Kontext des Spielens dabei aber nichts Unernstes bedeutet und gerade im echten Kampf seine Überlegenheit unter Beweis stellt, zeigt sich darin, dass man von Ralston berichtet, wie er mit seinen Gegnern gespielt hat: Das Ausrichten nach den Prinzipien erzeugt Dominanz derart, dass der Kontext des Spielens nie verlassen werden muss, selbst wenn der Gegner in einem anderen Modus operiert und „Ernstfall“ hat.
Jedes Spiel braucht seine Regeln, und die Regeln bestimmen umgekehrt das Spiel. Verschiedene Spiele entwickeln beim Spieler verschiedene Fähigkeiten. Ich möchte grob drei Kategorien von Spielen unterscheiden:

1. Cheng Hsin T’ui Shou: Die Kunst müheloser Stärke.

Wir spielen mit dem Partner auf der Matte, um ihn zu entwurzeln oder zu werfen.

2. Cheng Hsin Tai Chi: Body Being Praxis, Formen, Schwert, San Shou

Solopraxis zur Einübung der Prinzipien des mühelosen Körperseins über die Tai Chi-Formen; beim „Schwert“ exemplarisch ausgedehnt auf die Beherrschung eines Instruments und beim San Shou unter Einbeziehung eines Partners.

3. Cheng Hsin Boxen: Schlagen und Treten

Mühelose Stärke und Interaktionsprinzipien im Kontext des Schlagens. Wir spielen mit „westlichen“ Boxhandschuhen.

4. Choy Lin: Mixed Martial Arts, also die oberen drei Punkte gemeinsam.

Im Folgenden werden die einzelnen Bereiche kurz vorgestellt:

Cheng Hsin T’ui Shou: Die Kunst müheloser Stärke

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Der Hauptpfeiler des Cheng Hsin Trainings ist die „Kunst müheloser Stärke“, in der wir das Entwurzeln und Werfen des Partners auf der Matte trainieren. Etwa 100 choreographierte Techniken, die streng nach den oben genannten Prinzipien durchkomponiert sind, stellen das Grundgerüst des Trainings dar. Um dieses Gerüst herum spannt sich ein Netz von zahllosen Übungen, Spielen und Improvisationen, mit denen die Techniken in freier Interaktion zum Leben erweckt werden können.
Die Techniken reichen dabei vom „Push“ als einfachster Übung des Entwurzelns eines passiv stehenden Partners hin zu dynamischen Beinfegern, die den Partner aus vollem Lauf auf die Matte katapultieren. Manche Techniken unterstützen uns, die volle Dreidimensionalität des Raumes in unseren Bewegungen auszuleben, bei anderen ist exaktes Timing, präzise Balance oder vollständiges Erspüren des Partners wichtig. Immer aber sind sie so gebaut, dass die intrinsische Stärke des Körpers genutzt werden kann, und der Wurf (oder was auch immer) als Endprodukt eines intelligent gesteuerten Interaktionsprozesses entsteht: Anbieten, Führen, Zusammenfügen und Steuerung der gemeinsamen Bewegung münden schließlich mühelos in dem gewünschten Resultat.

Video: Body & Shoulder Throw, Demo 2006, mit Brendan Lea und Kevin Magee

Die Beherrschung zumindest einiger Techniken ist sehr hilfreich zur Orientierung im freien Spiel mit dem Partner auf der Matte. Technisches Können lässt einen bisweilen das Potential von Situationen schneller erkennen und stellt verschiedene Handlungsmöglichkeiten zur unmittelbaren Verfügung. Ausserdem erweitert technisches Wissen oft den Handlungshorizont, der sonst allein von dem schon Bekannten und dem Gewöhnlichen definiert und begrenzt wird. Andererseits kann der Fokus auf Techniken auch zum Bumerang werden, wenn die Aufmerksamkeit nurmehr nach Möglichkeiten zur Anwendung bekannter Techniken sucht und dadurch das Improvisieren, die ständige Veränderung und die Kreativität vertrocknet. Deshalb findet das Technische im Cheng Hsin seine Ergänzung und seinen eigentlichen Adressaten im freien Spiel auf der Matte. Zum Beispiel versuchen die Partner beim „Game B“ sich gegenseitig auf die Matte zu werfen, während sie selbst ununterbrochen nachgeben und keinerlei Druck auf den eigenen Körper zulassen wollen. Durch die Regeln dieses Spiels, die jeden Widerstand, jedes Absorbieren von Druck explizit ausschliessen, lernt man zunächst ständiges Nachgeben als Konstante der Interaktion, denn Nachgeben ist hier der einzige Weg, nicht zu verlieren. Um sogar zu gewinnen, können in diesem Setting Prinzipien wie Leading, Following und Joining voll zur Entfaltung gebracht werden. Während der Spieler seinem Partner nachgibt, kann er gleichzeitig beginnen, sich in die Bewegung einzuklinken, den Partner in seinen Bewegungen und Intentionen zu unterstützen und so die Kontrolle über das neue Ganze zu übernehmen.
Improvisationsspiele wie Game B fördern Reflexe zutage und machen sie in freundlicher und spielerischer Athmosphäre einer Bearbeitung zugänglich. Blocken und Absorbieren sind körperliche Ausdrucksformen von Abwehrhaltungen (bestensfalls Akzeptanz) und können im Spiel durch ein aktives Bejahen, Mitwollen, Mitspielen und Mitfühlen ersetzt werden und als effektiv und zielführend erfahren werden.

Body Being und Tai Chi

Die Schulung der eigenen körperlichen Bewegungsmöglichkeiten und -qualitäten ist eine natürliche Voraussetzung für das Spielen mit dem Partner. Dementsprechend sind Soloübungen zur Kultivierung der geschilderten Prinzipien des mühelosen Körper-Seins eng mit der „Kunst müheloser Stärke“ verwoben und nehmen dort einen breiten Raum ein. Die Prinzipien brauchen wiederholtes und ständig intensivertes Training. Dazu gehören Übungen zur Körperwahrnehmung, Visualisierungs- und Vorstellungsübungen, die die Körperwahrnehmung in andere Kontexte rücken, Trainings zur dreidimensionalen Raumwahrnehmung und so fort. Als Trainings“ort“ für die Prinzipien eignen sich besonders die Cheng Hsin Tai Chi Formen.
Das Miniset aus 12 Bewegungen kann schnell gelernt werden und wird gleichermaßen links- und rechts herum ausgeführt. Die Kurzform aus 64 Bewegungen erinnert grob an einen Yang-Stil, ist aber hier und da mit Ideen aus anderen chinesischen Künsten angereichtert. Einige Bewegungen würde man vielleicht eher dem Hsing I, andere wiederum vielleicht eher einer Kung Fu Form zuordnen. Wichtiger aber als die Herkunft der Bewegungen der Form ist aber die intendierte Qualität ihrer Ausführung: Die Form ist so konzipiert, dass sie exakt auf die Prinzipien Entspannung, Zentrierung, Erdung und Ganzheit abgestimmt ist. Die Abläufe sind derart optimiert, dass sie im wörtlichen Sinne aus der Körpermitte ausgeführt werden und die Schwerkraft als Bewegungsantrieb nutzen können. Sie sind entspannt am Rande des Kollabierens und dabei auf die richtige Schichtung und Ausrichtung des Körpers bedacht, um so die intrinsische Stärke des Körpers nutzbar machen zu können.

Video: Peter Ralston demonstriert drei Bewegungen aus der Form

Als Waffenform gibt es eine Tai Chi-Schwertform. Das Schwert erweitert den Horizont der Prinzipien über unseren eigenen Körper hinaus auf die Handhabung eines Instruments. Mit meinem Zentrum das Zentrum des Schwertes zu finden und zu bewegen, die Schwerkraft nutzend dem Schwert folgen, um eine perfekte Richtung und Schichtung von der Schwertspitze bis in die eigenen Füße zu erreichen, das ist Ziel und Freude der Schwertübung.
Die San Shou Form schließlich ist eine Partnerform mit insgesamt 38 Bewegungen. Sie ist derart choreographiert, dass sich nach einem Durchgang der Kreis schließt und die Partner mit vertauschten Rollen am Ausgangspunkt ankommen. Auf diese Art können sie nahtlos in die nächste Runde übergehen und jeweils die andere Seite üben. Die San Shou Form wird funktional geübt, das heißt alle Techniken – Pushs, Tritte, Schläge,Würfe usw. – werden zunächst tatsächlich ausgeführt.und erst beim nächsten Durchgang vom Partner neutralisiert. Aus dem Neutraliseren geht dann die nächste Technik hervor, usw. Der Charme des San Shou Übens besteht darin, dass man einerseits alle oben geschilderten Vorteile einer choreographierten Tai Chi Form hat, aber andererseits ein funktionales Feedback über die korrekte Ausführung der Bewegung bekommt. Die Choreographie lässt den Blick auf das eigene Körper-Sein in der Ausführung offen, durch den Partner wird gleichzeitig die funktionale Überlegenheit von Entspannung, Ganzheit, Zentrierung und Erdung deutlich.

Boxen

Um die Prinzipien auf Schläge und Tritte anzuwenden, ist ein eigener Trainingsrahmen von Vorteil, Erstens ist Boxen nicht jedermanns Sache, und zweitens ist die Boxausrüstung, also gut gepolsterte Boxhandschuhe, nicht hilfreich, wenn man Werfen und Pushen lernt.
Der spezielle Reiz beim Boxen im Vergleich zum T’ui Shou liegt in der größeren Geschwindigkeit und der im Allgemeinen größeren Angst- und Schmerzbereitschaft im Angesicht des schlagbereiten Gegners. Boxen ist deshalb ein guter Indikator, wie weit wir dem Loslassen vertrauen und wie gut wir unsere Reflexe (Widerstand, Blocken, Augen zu) unter Kontrolle haben und uns stattdessen um die aktive Gestaltung der Interaktion kümmern können.

Video: Peter Ralston Boxing in einer Pause während eines Workshops in Holland, ca. 1992

Auch und gerade beim Boxen gilt: Kein Blocken, sondern Ausweichen (Dodging, Ducking), um selbst frei zu sein, eigene Akzente zu setzen. So kann ich zum Beispiel, während mein Partner versucht, mich zu treffen, gleichzeitig ihn schlagen. Während der Körper aus dem Weg geht, bleiben die Hände frei, zuzuschlagen.
Auch die Nutzung intrinsischer Stärke beim „Effortless Punch“ – völlige Entspannung des Armes und das Alignment des ganzen Körpers in den Boden beim Auftreffen der Faust – eröffnet einen eigenen und neuen Zugang zu den Prinzipien.

Choy Lin: Mixed Martial Arts

Die im T’ui Shou und Boxen erworbenen Fähigkeiten werden im Choy Lin -Training zusammengeführt. Eigentlich gehört auch Cheng Hsin Grappling (Bodenarbeit) noch dazu, wird aber zur Zeit aus Zeitgründen selten unterrichtet. Im Choy Lin kann man in die Dimension „ernsthaften“ und freien „Kämpfens“ eintreten, da hier die Menge der Regeln stark reduziert wird und sich die Menge der Handlungsmöglichkeiten entsprechend vergrößert. Da sich für fachübergreifendes Kämpfen inzwischen der Name MMA (Mixed Martial Arts) eingebürgert hat, sprechen wir von Choy Lin heutzutage auch von „Cheng Hsin MMA“

Video: Eine freundliche Choy Lin Session mit Brendan Lea und Alan Roberts

Cheng Hsin und Tai Chi

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Das Tai Chi Chuan hat die Entstehung von Cheng Hsin mitbeeinflußt. Ein Teil der normalen Tai Chi Übungspraxis ist ins Cheng Hsin eingegangen, vor allem in Gestalt der Tai Chi-, der Schwert- und der San Shou Form. Umgekehrt sind inzwischen einige Einflüsse Peter Ralstons in der Tai Chi Praxis vieler Übenden angekommen. Die Cheng Hsin Formen unterscheiden sich von den traditionellen Formen auch nicht mehr, als die traditionellen Formen untereinander. Genau wie die Tai Chi-Meister von jeher, hat auch Peter Ralston eine Form genommen und sie für die ihm wichtigen Trainingsinhalte und -ziele optimert. Allerdings scheinen diese Inhalte und Ziele — die Entwicklung intrinsischer Stärke — einmalig in der Tai Chi-Welt zu sein. Selbst die nächsten Verwandten, wie etwa die Körpermechanik W. Chens, oder die Ideen, wie sie in der Tradition Huang Sheng Shyans durch Patrick Kelly oder Wee Kee Jin gelehrt werden, bleiben einem Dualismus von Expansion und Kontraktion (beziehungsweise Sinken und Steigen, und so weiter) verhaftet und verfolgen damit explizit ein anderes Übungskonzept als die „mühelose Stärke“ aus dem Cheng Hsin.
Die geschilderten Unterschiede in der Form sind für den Anfänger natürlich nur Details, die erst im Laufe der Zeit Gewicht gewinnen. Deutlicher aber sind von Anfang an die Unterschiede in der Partnerarbeit. So ist etwa das Fix-Step Pushing Hands im Kontext des Cheng Hsin keine sinnvolle Übungsform, zumindest nicht für Anfänger. Mit fixierten Füßen ist das Nachgeben entscheidend behindert und um viele Dimensionen beschnitten. Mit fixierten Füßen ist es fast unmöglich, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was es bedeutet, gar keinen Druck auf den Körper zuzulassen. Natürlich: Sobald man sehr gut und vor allem sehr präzise und flexibel geworden ist, kann man seine Fähigkeiten im festen Stand erproben und eventuell verfeinern. Sie lassen sich aber dort nicht erwerben.
Gleiches gilt für den Gebrauch intrinsischer Stärke. Sobald man den Abstand zum Partner nicht mit den Füßen verändern kann, übernehmen automatisch die Arme diese Funktion. Die Konsequenz ist der Gebrauch von expansiver Muskelkraft. Gleiches gilt für das omnipräsente Lehnen: Nicht zu lehnen ist bei festen Ständen schon aus geometrischen Gründen fast unmöglich. Kann ich aber meinen ganzen Körper mit den Füßen bewegen, so entpuppt sich das Lehnen als durchaus lösbares Problem. Auch hier kann ein Fortgeschrittener irgendwann in seiner Entwicklung durchaus vom Üben fester Stände profitieren und so an der Präzision und am Timing feilen. Aber das Übungssetting vom FixStepPushingHands ist zur Entwicklung dieser Fähigkeiten extrem kontraproduktiv.

Video: Pushing Hands, Cheng Hsin Style (Peter Ralston mit Rob van Ham)

*   Tatsächlich gibt es eine einzige mir persönlich bekannte Tai Chi-Richtung, die vollkommenes Nachgeben kultiviert: Das Tai Chi in der Tradition des Cheng Man Ching - Schülers Dr. Tao Ping Siang. Nach meiner Erinnerung kamen auch dort keine festen Stände beim T'ui Shou vor.

Autor: Klaus-H Peters

Fotos: Klaus-H Peters, Peter Ralston

Weitere Informationen zu Cheng Hsin

Weitere Literatur

Zusammenfassende Darstellungen auf Deutsch:

Bücher von Peter Ralston auf Deutsch

  • Die Prinzipien müheloser Stärke (Principles of Effortless Power) Schiedlberg, Austria: Bacopa Verlag 2008. 
ISBN 978-3-901618-34-5.
  • Das Prinzip müheloser Stärke (Zen Body Being) München: Knaur 2009. 
ISBN 978-3-426-87404-2.

DVDs und englische Literatur finden sich im Abschnitt „Medien“ unserer Website.

Trainingsmöglichkeiten in Europa

Deutschland
Workshops mit Klaus-Heinrich Peters
Regelmäßige Trainings in Hamburg
Workshops mit Peter Ralston (zweijährlich)
Zentrale Infostation: www.chenghsin.de
Niederlande:
Regelmäßiges Training in und um Nijmegen mit Rob van Ham, Eugene Meijs und Joris van Kasteren
Workshops mit Peter Ralston (jährlich)
Information: www.chenghsin.nl
Großbritannien und Irland
Workshops mit Kevin Magee
Informationen: www.chenghsin.co.uk
Frankreich
Mulhouse: Regelmäßiges Training mit Elizabeth Saetia
Workshops mit Rob van Ham und Klaus-H. Peters
Grenoble: Training mit Bruno Cointrel
Traning mit Marc Appelmans
Informationszentrale: www.chenghsin.fr