Einheit erfahren – Daoismus und Ganzheit in der Modernen Physik

Wudang Shan

Hat der Daoismus die Quantenphysik erreicht?

Von Dr. Imke Bock-Möbius

Folgt man dem Ausspruch des chinesischen Dichters Su Zhé (11. Jh.), könnten Daoismus und Quantenphysik tatsächlich eine gemeinsame Grundlage haben. Er schreibt: „Es gibt nur ein Ordnungsprinzip (li) in den zehntausend Dingen; der Unterschied liegt lediglich darin, von wo sie ausgehen“1. Wenn das so ist, dann müsste wir ziemlich weit zurückgehen, vielleicht bis zum Beginn des Universums.

Welches ist diese gemeinsame Grundlage? Offenbar hat sie mit der Vorstellung, der Wahrnehmung und dem Empfinden von EINHEIT in vielfältigster Form zu tun bzw. mit dem Verlust dieser Einheit. Der Verlust ist der Grund für unsere beständige Suche. Wenn die Suche gelingt, folgt daraus Wohlbefinden. Das wird auf einem Bambusbild von Wú Zhèn (13./14. Jh.) so formuliert: „Hat man das Prinzip, das in der Leere liegt, verstanden, welche Sorgen können dann noch das Herz erfüllen?“1

Hier wird dem zugrunde liegenden Ordnungsprinzip in drei verschiedenen Bereichen nachgespürt und möglicherweise vergehen dabei die Sorgen, die das Herz erfüllt haben könnten. Dazu wird zuerst die Bewegungskunst Qìgong unter dem Aspekt der Vollständigkeit in jeder Übung betrachtet sowie der Begriff des Dào, dann die Mystik im zentralen Begriff des Einheitserlebnisses und schließlich die Naturwissenschaft, speziell die Quantenphysik als Repräsentantin der Modernen Physik, mit dem Begriff der Verschränkung/Nichtlokalität. Über die Auseinandersetzung mit den drei gewählten Bereichen gewinnt man Eindrücke vom Daoismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das war auch das Kongressthema bei der 5. Internationalen Daoismus Konferenz in Wudangshan/China 2009, wo dieser Beitrag vorgetragen wurde. Mein Zugang zum Thema erfolgt von der Seite des Qìgong, mit dem Daoismus als einer der Wurzeln des Qìgong.

Daoismus in der Gegenwart: Qìgong

Qìgong ist nicht nur die Kunst der Lebensführung und eine Methode zur Mobilisierung der Selbstregulierungskräfte des Menschen; im Vordergrund steht die Realisierung bestimmter Prinzipien auf körperlicher und geistiger Ebene. „Qì ist die letzte [] Ursache der Dinge“2, ein Begriff, der Bewegung ausdrückt. Durch seine Bewegung und Dynamik sind Mensch und Universum verwoben. Qì ist die Brücke zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, zwischen den Objekten und dem höchsten Prinzip.

Wenn man bis zur Entstehung des Universums zurückgeht, dann könnte man diese als einen Übergang vom undifferenzierten Zustand der Einheit, dem Dào, zum Auftreten der Polaritäten Yin und Yáng beschreiben. Der beständige Übergang zwischen diesen Polaritäten wird in der Dynamik des Tàijí-Symbols  sichtbar. Um in Harmonie mit der Natur zu leben und Schaden zu vermeiden, soll man diesem Wandel, der sich ergänzenden Gegensätze folgen. Das kann als Übungsanweisung aufgefasst werden, so dass sich beim Praktizieren des Qìgong das Dào im Prinzip der Vollständigkeit wiederfinden lässt. Die Ergänzung der Polaritäten zeigt sich in den vier Grundmustern der Bewegung: Öffnen/Schließen, Steigen/Sinken3, die kontinuierlich ineinander übergehen und jeweils den Gegenpol enthalten. Jedem Öffnen wohnt ein Schließen inne und umgekehrt, z.B. ist man sich beim Öffnen immer noch der Verwurzelung bewusst und beim Schließen beachtet man die Aufrichtung.

Die führende Kraft beim Üben ist die geistige Ausrichtung, die der Übung über geeignete Vorstellungsbilder ihren Gehalt gibt. Im angestrebten Zustand innerer Ruhe und Klarheit werden störende Impulse ausgeblendet, so dass Qìgong zu einer Meditation in Bewegung4 werden kann. Auf diese Weise entstehen ideale Bedingungen für regenerierende Prozesse, und die positiven Auswirkungen des Qìgong können sich voll entfalten. Diese Ruhe ist ein Zustand von Natürlichkeit (zìrán), in dem die Verbindung zwischen Mensch und Natur, die den gleichen Gesetzen folgen, klar wird, die Dualität der Welt aufgehoben und die Einheit mit dem Dào erfahrbar ist. – Der Geist ist zugleich konzentriert und ungebunden. Im guten Übungszustand werden die Vorstellungsbilder wahrnehmbar und ein Gefühl von Zeitlosigkeit stellt sich ein. Während der Übungen geschehen Umwandlungen im Inneren des Körpers in den Dantián genannten Regionen, die Veredelungsprozessen entsprechen, wie man sie im Äußeren aus der Alchimie kennt. Daher wird Qìgong auch innere Alchimie genannt; man könnte sagen, dass man von innen her an der Langlebigkeitspille arbeitet. Für mich ist Qìgong ein Beispiel von praktiziertem Daoismus in der Gegenwart.

Festzuhalten bleibt, dass man beim Qìgong darauf achtet, Gegenpole nicht nur als Gegensätze sondern auch als Komplemente aufzufassen, die gemeinsam ein Ganzes bilden, und zwar in sehr vielen Punkten, z. B. bezüglich Natürlichkeit und Kontrolle bei der Ausführung der Bewegungen.

Diesen Komplementaritätsgedanken, mit dem man beim Qìgong und im Daoismus vertraut ist, möchte ich nun auf das Gebiet der allgemeinen Erkenntnis erweitern. Heute ist die Naturwissenschaft eine etablierte rationale Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen, als ein objektiver und reproduzierbarer Weg. Das Komplement dazu wäre eine intuitive Methode, ein subjektiver und einzigartiger Erkenntnisweg, z.B. die Mystik. Würde man gemäß dem Komplementaritätsgedanken die Erfahrungen beider Wege kombinieren, könnten meiner Meinung nach vollständigere Erkenntnisse über die Zusammenhänge im Universum gewonnen werden.

Abbildung 1 zeigt die Komplementarität von Naturwissenschaft und Mystik, beide sind Erfahrungsmethoden; die eine analysiert die äußere, die andere die innere Welt. Die Mittel und Wege, die sie benutzen, um Informationen zu erhalten, sind Mathematik, physikalische Theorien und Experimente auf der äußeren Seite, sowie Meditation, Gebet und Ritual auf der inneren Seite. Die Fragen, auf die sie antworten, sind die nach der Funktion (wie) auf der äußeren Seite, und die nach dem Sinn (warum) auf der inneren Seite. Nach meiner Ansicht vermittelt Qìgong zwischen den beiden Seiten, da Qìgong sowohl den äußeren Anteil hat, also z.B. eine lange Überlieferung, Methodik und klare Übungsanweisungen als auch den inneren Anteil, nämlich die Erfahrungen mit dem Qì, die in der Selbstübung möglich sind. Außerdem werden zunehmend wissenschaftliche Studien, die die Wirksamkeit von Qìgong bei bestimmten Krankheitsbildern zeigen, z.B. bei Asthma oder Migräne, auch im Westen durchgeführt5, 6.

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Abbildung 1: Komplementarität von Naturwissenschaft und Mystik, erfahrbar im Qìgong

Vergangenheit des Daoismus: Mystik

Der Daoismus hat seine Wurzeln in der Mystik. In der Einführung zum Zhua?ngzi lesen wir, dass er „zu dem zentralen Erlebnis führen will, das jenseits des Denkens liegt und von der Wissenschaft nur unvollkommen erfasst wird“.

Mystik ist die Erfahrung des Absoluten im Hier und Jetzt. Im Osten wird es Dào genannt, im Westen Gott. Mystik ist kein Sammelbegriff für alles, was ein bisschen nebulös ist, sondern bedeutet Erkenntnis durch Innenschau, Eins werden mit Gott. Von westlichen Mystikern wie Willigis Jäger wird dieses Eintauchen in das Mysterium in der Metapher von Welle und Meer beschrieben: Wir Menschen sind wie die Wellen im göttlichen Ozean (der Mensch als Teil des Kosmos), aber der Ozean erlebt sich in jeder einzelnen Welle7 (Gott drückt sich in jedem Einzelnen aus). In einem anderen Bild kann man sagen, dass einerseits der Wesenskern des Menschen von Gott stammt und die Trennung eine Illusion ist und sich andererseits Gott im Menschen als Mensch erfährt. Wenn wir Gottes Erscheinen in den zahlreichen Religionen mit dem Erscheinen des Lichts in den Spektralfarben vergleichen, wird anschaulich, dass jeder seine eigene Lieblingsfarbe haben kann und dass keine Farbe besser ist als eine andere.

Neben dem rationalen Teil der Religionen, der Theologie, ist die Mystik als der erfahrbare Teil in den letzten 200 Jahren sehr zurückgetreten, da die Theologie immer mehr verwissenschaftlicht wurde. Viele Theologen haben ein intellektualistisches Gottesbild7. Die Einheit mit dem höchsten schöpferischen Prinzip ist in der mystische Erfahrung selbst erlebbar. Im transpersonalen Raum, in dem das geschieht, liegt auch unser Heilungspotential verborgen. Der Schlüssel dazu ist die Überwindung des Ich. Als Organisationszentrum für unseren Alltag ist es sehr nützlich, muss aber zurücktreten, um uns den Weg zum Transpersonalen freizumachen. Nach Ansicht von Ken Wilber8, einem führenden Theoretiker der Transpersonalen Psychologie, ist die Suche nach dem Einheitserlebnis unsere Ursehnsucht, die uns durch die ganze Evolution leitet. In der modernen Welt werden unsere spirituellen Grundbedürfnisse wenig oder gar nicht beachtet, so dass wir immer tiefer in eine Sinnkrise hineintreiben. Die ursprüngliche Suche nach Transzendenz wird zu früh abgebrochen und bleibt oft in Suchtverhalten und Ich-Bezogenheit stecken. Die Überwindung des Ego aber macht unser Eingebunden sein in die größere Wirklichkeit wahrnehmbar und dadurch lässt sich die Sinnkrise überwinden. Wilbers Theorie passt zu den Berichten von C.G. Jung, dass alle seine Patienten über 35 grundlegend mit dem Problem der religiösen Einstellung befasst waren9.

In der christlichen Tradition wird die Trennung von Gott und Welt in der Genesis durch die Vertreibung aus dem Paradies beschrieben (1. Buch Mose 3). Der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis führt zum Wissen um Gut und Böse und kann als das Verlassen der Einheit über das Eintreten in die Polarität angesehen werden. Daraus resultiert unsere Suche nach der Rückverbindung mit Gott. Diese Suche kann man auch als Bestandteil eines Entwicklungsweges betrachten, der ohne die Vertreibung nie begonnen hätte. – Im Daoismus erscheint die Dualität in der Teilung des Dào in Yin und Yáng, aus denen im weiteren Verlauf die fünf Wandlungsphasen und die 10000 Dinge entstehen. Eine Trennung von Yin und Yáng ist prinzipiell nicht möglich.

Der wesentliche Punkt im Bereich der Mystik ist m.E., dass das Einheitserlebnis nicht als Regression zu einem vorbewussten paradiesischen Zustand zu sehen ist, sondern als Ziel einer langen Entwicklung sowohl des Menschen als auch der Menschheit. In der Entwicklung des Menschen findet man Parallelen zur Entwicklung der Menschheit vom Bewusstwerden der Trennung von Gott/vom Dào über den Eintritt ins Ich-Bewusstsein. Nun muss dieses Ich-Bewusstsein in Richtung auf den transpersonalen Zustand überwunden werden. Nach Wilbers Sicht ist das der Sinn unserer Geschichte: Entwicklung auf Vervollkommnung hin, Entfaltung der latent vorhandenen Ebenen, um Transzendenz zu erfahren.

Wilber nimmt an, dass neue Fähigkeiten nicht einfach so entstehen können, sondern bereits im Verborgenen vorhanden sind, bevor sie sichtbar werden. Er geht davon aus, dass vor der Evolution ein Prozess der Involution stattfand, in dem höhere Fähigkeiten eingefaltet wurden bis sie verschwanden. Am Ende dieser Involution sind alle höheren Ebenen unbewusst. Dann erst beginnt die Evolution in der uns bekannten Weise, die Natur erinnert sich ihrer Potentiale und entfaltet sie sukzessive8.

Wir können davon ausgehen, dass diese Sehnsucht nach dem Absoluten etwas allgemein Menschliches ist, doch die Angst, das Ego zu verlieren, ist groß. Deshalb wählt der Mensch oft Ersatzlösungen: den Wunsch, sich mit Gott zu vereinen, ersetzt er durch den Wunsch, Gott zu spielen; statt nach der Einheit des Kosmos zu suchen, will er den Weltraum beherrschen. Er verwechselt das Unendliche mit dem Endlichen: er sucht Gott in den Dingen und macht Geld zum Symbol seiner Unsterblichkeit. Das bedeutet zahlreiche Umwege und Leiden für den Menschen.

Letztlich geht es darum, zu erkennen, das es keine Trennung zwischen Gott/Dào und Welt gibt und dass wir den inneren Geist direkt erfahren können, so dass sich die Erste Wirklichkeit/das Dào erschließt 7: dieses bedeutet ein Ende des Leidens. Beten heißt, mit Gott zu sprechen, aber älter als das Gebet mit Worten ist das Beten ohne Worte: das Körpergebet10. Das Eins werden mit der Gebärde führt zur Sammlung und bereitet den Weg zur transpersonalen Ebene, es ist sogar der Weg dahin. Man kann Qìgong als Gebet ohne Worte ansehen. Gott/Dào zu kennen, heißt nicht, Wissen über Gott/Dào zu haben, sondern eins damit zu sein. Die Erfahrung des Transpersonalen führt zu einer Entwicklung der Persönlichkeit, die mit gutem Willen oder Druck nicht zu erreichen wäre.

Obwohl die Erfahrung einschneidend ist, gelingt es dem Mystiker im Meer des Bewusstseins oben zu bleiben; das unterscheidet ihn vom Psychotiker, der leicht darin untergeht. Beide suchen den Weg zurück zur Einheit, der Psychotiker in der Regression, der Mystiker in der Progression8. Voraussetzung, um diesen Entwicklungsweg gesund zu durchlaufen, ist es daher, die Übungspraxis im Geisteszustand von Klarheit, Wachheit und Präsenz durchzuführen. Dieser Zustand ist eine wichtige Anforderung sowohl beim Qìgong-Üben wie auch in der Meditation/Kontemplation. Im Labyrinth des Lebens muss man die Richtung beibehalten.

Unter dieser Voraussetzung gibt es keinen Grund, warum wir die innere Erfahrung bei der Gewinnung von Erkenntnissen aussparen und uns bei der Suche danach allein auf den Verstand beschränken sollten.

Daoismus der Zukunft: Nichtlokale Wechselwirkungen

Auf der Suche nach den universellen Ordnungsprinzipien wenden wir uns heute meist den Naturwissenschaften zu. Interessante Neuerungen werden z.B. durch die Quantenphysik möglich und haben immense Auswirkungen.

Worum genau geht es in der Quantenphysik? Im Jahr 1900 zeigte sich, dass sich gewisse physikalische Probleme mit der Annahme lösen ließen, dass wesentliche Größen in der Natur nur quantisiert vorkommen, das heißt, dass zum Beispiel Energie nur in kleinsten Portionen (Quanten) abgegeben oder aufgenommen werden kann, in Vielfachen des Planck’schen Wirkungsquantums. Daraus ergeben sich weitreichende Folgen u.a. für die Stabilität der Atome, die 1916 durch das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell erklärt werden konnte.

Ein fundamentales Experiment der Quantenphysik, das Doppelspalt-Experiment, zeigt ein überraschendes Ergebnis, nämlich den Dualismus von Welle und Teilchen für atomare Objekte. Je nach Aufbau des Experiments treten die Wellen- oder die Teilchenaspekte hervor11. Schicken wir Quantenobjekte, also atomare Teilchen oder Licht, durch die beiden geöffneten Spalte hindurch, zeigen sich deren Welleneigenschaften als Interferenzstreifen, das heißt, als helle und dunkle Streifen auf dem Auffangschirm, die auf hohe beziehungsweise niedrige Intensität P(x) hinweisen (Abb. 1). Nehmen wir aber klassische kleine Kugeln, erhalten wir nur ein – viel breiteres – Signal. Problematisch wird es in der folgenden Variante: Schickt man wieder Quantenobjekte durch die beiden Spalte, beobachtet den Vorgang aber währenddessen mit einer Lichtquelle, dann gehen die Welleneigenschaften verloren und wir erhalten das gleiche Signal wie für Teilchen.

Diese widersprüchlichen Aspekte von Elementarteilchen oder Licht konnten in der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik von 1927 über die Heisenberg’sche Unschärferelation und das Bohr‘sche Komplementaritätsprinzip versöhnt werden. Sie wurde in wesentlichen Zügen an Niels Bohrs Institut für theoretische Physik in Kopenhagen erarbeitet.

Im Gegensatz zur Klassischen Mechanik trifft die Quantenphysik zwar auch präzise Vorhersagen, doch haben die Vorhersagen nur statistischen Charakter, geben also Wahrscheinlichkeiten an. Atomarer Prozess und Messgerät sind nicht länger getrennt zu betrachten. Der Beobachter stört das System durch seine Messung. Unser Wissen über die physikalische Welt stößt an prinzipielle Grenzen, die gemäß der Unschärferelation vorhergesagt werden können und die physikalischen Eigenschaften eines Systems bleiben solange unbestimmt, bis sie gemessen werden.

Für seine Verdienste wurde Niels Bohr 1947 von der Dänischen Akademie der Wissenschaften der Elefantenorden verliehen. Auf seinem Wappen finden wir interessanterweise das Taiji-Symbol12 abgebildet. Bohrs Komplementaritätsgedanke bezog die Einheit der Gegensätze auf die Ergänzung von Teilchen und Welle. Schon an dieser Stelle wird die Einheit der Natur deutlich, das Dào in der Physik, wie Fritjof Capra sein Buch in den 70er Jahren nannte und mit dem er eine breite Öffentlichkeit für die moderne Physik interessierte. Aber es gibt heute noch erstaunlichere Phänomene (s.u.).

Andererseits gab es auch vehemente Gegner der Quantenhypothese, z.B. Albert Einstein, der sie für unvollständig hielt. Die Meinungsverschiedenheiten über die Vollständigkeit der Quantenphysik, die Bohr und Einstein über lange Jahre öffentlich geführt hatten, kulminierten 1935 in der Formulierung des Einstein-Podolsky-Rosen (EPR) Paradoxons 13, das 1952 von David Bohm abgewandelt wurde. Die Berechnungen sowie die Experimente, die erst in den 70er und 80er Jahren14 möglich wurden, zeigten Korrelationen zwischen den Zuständen von Teilchen, die irgendwann einmal ein gemeinsames System gebildet hatten, unabhängig davon, wie weit die Teilchen zum späteren Zeitpunkt der Messung voneinander entfernt waren. Sie zeigten eine unvermutete hinter den Dingen liegende Ganzheit. Welche Bedeutung das für den Rest des Universums hat, wenn wir annehmen, dass der Anfang von Raum und Zeit mit dem Urknall begann, in dem alles auf kleinstem Raum komprimiert war, ist noch nicht abzuschätzen.

Die Korrelationen zwischen den Teilchenzuständen sind nicht erklärbar mit den Konzepten Lokalität und Realismus, die bisher galten, nämlich, dass Systeme ihre Eigenschaften unabhängig voneinander besitzen und diese Eigenschaften unabhängig von der Messung existieren. Sie erweisen sich als nicht mehr brauchbar. Das neue Konzept heißt Verschränkung, ein Begriff, der 1935 von Erwin Schrödinger geprägt wurde15 und der in vielen Teilen dem entspricht, was wir Dào nennen. Eine andere Bezeichnung ist Nichtlokalität.

Damit die Verschränkung nicht in Widerspruch zur Speziellen Relativitätstheorie steht, muss allerdings von Korrelationen zwischen Quantenzuständen (d.h. zwischen Wahrscheinlichkeitsverteilungen) ausgegangen werden, statt von Informationsübertragung, die höchstens mit Lichtgeschwindigkeit erfolgen könnte. Das ist sinnvoll, da Atome und Quantenobjekte keine Dinge mehr sind, sondern beobachtbare Phänomene in einer Welt von Wahrscheinlichkeiten; mit Heisenberg formuliert, existieren sie zwischen der Idee von einem Ding und einem wirklichen Ding16.

Wie man in der Mystik in Bildern und Gleichnissen spricht, so benutzt man in der Quanten-physik Operatoren und Erwartungswerte. Man spricht über mathematische Größen in einem abstrakten Raum; Wahrscheinlichkeitswellen sind keine realen Wellen. Man hat zwar klar verstanden, worum es sich handelt, kann es aber nur symbolisch mitteilen. Außerdem bleiben noch einige wichtige Punkte ungeklärt: Die Wellenfunktion ist die Gesamtheit der möglichen Zustände eines Systems. Im Moment der Messung kollabiert die Wellenfunktion und aus der Vielfalt aller möglichen Zustände realisiert sich ein spezieller Zustand.

Obwohl die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik bereits vor 80 Jahren formuliert wurde, ist über vieles immer noch nicht das letzte Wort gesprochen. Nach meiner Ansicht liegt die Hauptursache der vielen Unklarheiten bei der Suche nach den fundamentalen Prinzipien des Kosmos in der niedrigen Dimensionalität unseres Alltagsbewusstseins: Wir finden uns in nur drei Raumdimensionen und einer Zeitdimension zurecht; jedoch brauchen die Fachleute der Stringtheorie17 bereits 10 Raumdimensionen und die Zeitdimension, um zu widerspruchsfreien Ergebnissen bzgl. der Vereinheitlichung der Kräfte zu kommen. Die Stringtheorie erlaubt z.B. die Beschreibung des Inneren Schwarzer Löcher, bei denen man kleine Abmessungen und große Massen hat. Für den Bereich des Ultrakleinen wird die Quantenphysik gebraucht, für den Bereich der großen Massen die Allgemeine Relativitätstheorie. Diese beiden Theorien waren früher nicht vereinbar. Zentraler Punkt der Stringtheorie ist, dass man nicht mehr von punktförmigen kleinsten Teilchen ausgeht, sondern von schwingenden ein- bis mehrdimensionalen Strings.

Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass unsere dreidimensionale Welt nur eine Projektion einer höher dimensionalen Realität ist, dann können Dinge, die uns irritieren, da sie keinerlei Verbindung miteinander zu haben scheinen (wie Teilchen und Welle), sich nun eventuell als zum selben Phänomen gehörend herausstellen. Dieses ist in Abbildung 2 dargestellt, in der ein Kreis und ein Rechteck in der zweidimensionalen Ebene offenbar nichts miteinander zu tun haben. Wenn wir sie aber als Projektionen einer dreidimensionalen Realität erkennen, verstehen wir plötzlich, dass sie nur entstehen, weil das gleiche Objekt von verschiedenen Seiten angeschaut wurde. Beide repräsentieren den Zylinder, der Kreis zeigt die Aufsicht, das Rechteck die Seitenansicht. Wenn wir diese Gedanken auf atomare Verhältnisse übertragen, könnte der Welle-Teilchen-Dualismus auf den Begrenzungen unserer dreidimensionalen Welt beruhen. Welle und Teilchen könnten einfach verschiedene Projektionen des gleichen höher dimensionalen Phänomens sein, das wir leider mit unserem Alltagsbewusstsein und unseren Messgeräten nicht wahrnehmen können.

Kreis_und_Rechteck_als_Projektionen_eines_Zylinders
Abbildung 2: Kreis und Rechteck als Projektionen eines Zylinders

Man kann sagen, dass das Phänomen der Verschränkung, also die überraschende Beziehung zwischen Quantensystemen, die einmal verbunden waren, uns direkt zum Nachweis der zugrundeliegenden Einheit in der Natur führt. Einem Bereich also, von dem die Mystiker und Daoisten schon seit langem wissen. Zur Erkenntnis der Zusammenhänge im Universum ist es also sehr angebracht, die Einheit von Naturwissenschaft und Mystik herzustellen (s. Abb. 1) und ihre Erfahrungen zu verbinden. Nichtlokalität ist ein Phänomen jenseits von Raum und Zeit, ebenso wie die innere Erfahrung.

Zusammenführung

„Alle Menschen haben aufgrund ihrer Natur eine Sehnsucht nach Wissen“18, sagt Aristoteles (4. Jh. v.Chr.). „Und nach Sinn“, möchte ich hinzufügen, denn das war für mich die treibende Kraft für diese Zeitreise durch den Daoismus und die Beschaffenheit der Wirklichkeit.

In den drei untersuchten Bereichen Qìgong, Mystik und Quantenphysik begegnet uns das gleiche Hauptthema mit verschiedenen Bezeichnungen: Dào, Einheit, Verschränkung. Im Qìgong praktizieren wir die Annäherung an die Vollständigkeit in den Wandlungen von Yin und Yáng im Öffnen und Schließen. Wir kehren zum Dào zurück durch die Verbindung der komplementären Phasen in jeder Übung. Bei den Mystikern begegnet uns die Ganzheit in der Erfahrung der universellen Einheit, die hinter der Dualität der Welt steht, also in der transpersonalen Erfahrung. In der Naturwissenschaft ist es die Verschränkung oder Nichtlokalität, die eine völlig unerwartete Einheit zwischen Subjekt und Objekt der Messung bzw. zwischen früher einmal verbundenen Teilen eines Systems aufdeckt. Es scheint so, als würde die Verschränkung uns im Messbaren endlich das zeigen, dessen sich Mystiker als einer höheren Wirklichkeit seit jeher bewusst sind. Heisenberg war der Ansicht, dass man jederzeit mit der „zentralen Ordnung der Dinge“ in Beziehung treten könne19. Die Wellenfunktion fungiert dabei als Brücke zwischen den Dingen und dem Dào. Sie beschreibt die Summe aller möglichen Zustände.

Die sorgfältige Trennung von Subjekt und Objekt, die in den Naturwissenschaften seit Descartes (17. Jh.) praktiziert wurde, ist einer zusammenhängenden Realität gewichen. Innere und äußere Erfahrungen laufen zusammen. Es ergibt sich eine Kohärenz naturwissenschaftlicher und mystischer Erkenntnis. Dieses lässt sich schon in einzelnen Qìgo?ng-Übungen wahrnehmen.

Das Ziel, nach dem wir heute suchen, ist „die Synthese von rationalem Verstehen und mystischer Einheitserfahrung“20. Auch Heisenberg hält das für unsere fundamentale Sehnsucht. Beide, rationales Verständnis und mystische Erfahrung, sind wohl doch keine Gegensätze, sondern eher Komplemente, einfach verschiedene Wege der Erkenntnis. Zusammen erlauben sie ein Verständnis der Wirklichkeit nicht nur mit dem Kopf, sondern auch „mit dem Herzen“, wie er es einmal im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie formulierte19; das gibt uns ein ganzheitliches Verständnis. Anders ausgedrückt, lernen wir nicht nur, wie die Dinge funktionieren, sondern erkennen auch den Sinnzusammenhang.

In früheren Zeiten waren die Wertesphären Ethik, Wissenschaft und Kunst nicht getrennt. Das hatte den großen Nachteil, dass die Religion der Wissenschaft sowie der Kunst Vorschriften machte, zum Beispiel bei Galilei im 17. Jahrhundert. Eine Differenzierung beziehungsweise Aufspaltung der Wertesphären war also sinnvoll. Heute kann man eher eine Tendenz zur Abspaltung der Wertesphären voneinander beobachten, so dass ein Scientismus entsteht, der manche glauben lässt, dass es außerhalb der Wissenschaft keine Wirklichkeit mehr gäbe und innere Dimensionen leugnet bzw. auf äußere reduziert. Diese Entwicklung geht über das Ziel hinaus und hinterlässt eine Welt ohne Sinn. Die empirische Methode, die die Grundlage der Wissenschaft bildet, kann auch auf innere Erfahrungen angewendet werden, wie Wilber es beschreibt21. Sie liefert uns ein Kriterium dafür, ob eine bestimmte innere Erfahrung einen Erkenntnisgehalt darstellt.

Wir gehen davon aus, dass die Welt in verstehbarer Weise geordnet ist, dass es innen und außen die gleichen Strukturen gibt und das zu Recht19. Immer mehr Phänomene, die man früher für getrennt hielt, erweisen sich inzwischen als zusammengehörig: Schwerkraft im Kosmos und auf der Erde; Elektrizität und Magnetismus; Raum und Zeit. Gegenwärtig sucht man nach der Vereinheitlichung der vier fundamentalen Wechselwirkungen Gravitation, Elektromagnetismus, Starke und Schwache Kernkraft und kommt ihr mit der Stringtheorie immer näher. Vielleicht gelingt eines Tages auch die Versöhnung von Wissenschaft und Mystik.

Verschränkung offenbart uns Aspekte des transzendenten Teils der Wirklichkeit, „das Eine in allem Vielen“, wie es in der Einleitung zum Yìji?ng bei Richard Wilhelm heißt. Eine Qìgo?ng-Übung ist für mich die kleinste Form dieser Einheit, deshalb nenne ich sie das Quantum vom Dào – da schon eine einzelne Übung die Polaritäten überwinden und verbinden kann. Wir praktizieren beim Qìgong das Wiedererlangen des Dào, Übung für Übung, so dass unser Herz seine Sorgen entlässt (s. Teil 1). Im Einheitserlebnis der Mystik erfahren wir das Dào, und durch die moderne Experimentiertechnik wird das Dào in der Quantenphysik als Verschränkung sogar messbar und gestaltet unsere moderne Welt. Daher ordne ich die Verschränkung hier dem Daoismus der Zukunft (s. Teil 4) zu. Zahlreiche neue Entwicklungen haben ihren Ausgangspunkt in der Quantenphysik. Eine praktische Anwendung ist z.B. die Verschlüsselung von Informationen; über das Phänomen der Verschränkung kann festgestellt werden, ob eine Nachricht abgehört wurde.

Auf die Frage, ob der Daoismus die Quantenphysik erreicht hat, lautet die Antwort also, dass er schon immer dort war. Wie die Kopenhagener Deutung zeigt, muss er gelegentlich wieder neu herausgearbeitet werden, wie bei dem Holzbild, das Meister Eckhart (13./14. Jh.) erwähnt: „Wenn ein Meister ein Bild macht, so trägt er das Bild nicht in das Holz hinein, sondern schnitzt die Späne ab, die das Bild verborgen [] halten“22.

Wer sich noch eingehender dem Thema befassen möchte, dem sei mein neues Buch Qigong meets Quantenphysik23 empfohlen.

Literatur:

1) Pohl, K.-H.: Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2007: 32-47

2) Ommerborn, W.: Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2004: 68-79

3) Jiao Guorui: Qigong Yangsheng – Ein Lehrgedicht. Uelzen 1993

4) Bock-Möbius, Imke: Qigong – Meditation in Bewegung. Heidelberg 1993

5) Reuther, I.: Zeitschrift für Qigong Yangsheng 1996: 44-50

6) Friedrichs, E.: Zeitschrift für Qigong Yangsheng 2003: 101-112

7) Jäger, Willigis: Die Welle ist das Meer. Freiburg 2000 (15. Aufl.)

8) Wilber, Ken: Halbzeit der Evolution. Frankfurt a.M. 2004 (7. Aufl.)

9) Jäger, Willigis: Wiederkehr der Mystik. Freiburg 2005 (5. Aufl.)

10) Jäger, Willigis und Grimm, Beatrice: Der Himmel ist in dir. Einübung ins Körpergebet. München 2004 (4. Aufl.)

11) Feynman, R.P., Leighton, R.B., Sands, M.: Feynman Vorlesungen über Physik, Bd III: Quantenmechanik. München 1999 (4. Aufl.)

12) Capra, Fritjof: Das Tao der Physik. Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie. Bern, München, Wien 1988.

13) Einstein, Albert: Phys. Rev. 47, 777(1935)

14) Aspect, A., Grangier, P., Roger, G.: Phys. Rev. Lett. 49, 91(1982)

15) Schrödinger, E.: Naturwiss. 23, 823(1935)

16) Heisenberg, W.: Physik und Philosophie. Stuttgart 2007 (7. Aufl.)

17) Greene, Brian: Das elegante Universum. Berlin 2000

18) (Zitiert in) Schäfer, Lothar: Versteckte Wirklichkeit. Wie uns die Quantenphysik zur Transzendenz führt. Stuttgart 2004

19) Heisenberg, W.: Der Teil und das Ganze. München 1969

20) (Heisenberg in) Ricard, M., Thuan, T.X.: Quantum und Lotus. Vom Urknall zur Erleuchtung. München 2008

21) Wilber, Ken: Naturwissenschaft und Religion. Die Versöhnung von Weisheit und Wissen. Frankfurt a.M. 1998

22) Quint, Josef (Hrsg.): Meister Eckehart – Deutsche Predigten und Traktate. Hamburg 2007 (7. Aufl.)

23) Bock-Möbius, Imke: Qigong meets Quantenphysik. Das Prinzip Einheit erleben. Oberstdorf 2010

Dr._rer.nat._Imke_Bock-Mobius_Dipl.-Physikerin_Qigong-Lehrerin_
Die Autorin, Dr. Imke-Möbius