Atemtypen und die Bedeutung des Ming Men im Taijiquan

Mein Weg zum „Lebenstor“ (Ming Men)

Frieder-Anders_mit Tigermaul

Ming ist in der chinesischen Philosophie der Wille des Himmels, eine Verfügung, ein Schicksal, eine Bestimmung und bezeichnet die festgelegte Lebensspanne. Men (wörtlich: Tor, Tür, Eingang, Öffnung, Ventil) kommt in vielen chinesischen Namen vor und bezeichnet immer einen ungehinderten Ein- und Ausgang für etwas. Lebenstor oder Tor des Lebens heißt es deswegen, weil hier die ursprüngliche Vitalität des Menschen verankert ist, die über die Lebensdauer entscheidet. „Das Jing der Erde reagiert mit dem Shen des Himmels und erzeugt ein Drittes, Qi, eine richtungsweisende Kraft. Diese ursprüngliche Polarität von Himmel und Erde ist es, die im Lebenstor wohnt und unser Leben konstituiert. Sie ist die Grundlage für alle energetischen Konstellationen im Makrokosmos wie auch im Mikrokosmos. Sie ist die Voraussetzung für die Zeugung, Geburt, Leben und Tod des Menschen, sie ist die Mutter aller Wesen … Jing Shen, das Zusammenwirken von Essenz und Geist, Möglichkeit und tatsächliche Präsenz, ist hier zu Hause“ (Lorenzen). Die Konfuzianer sprachen vom Ming Men als dem Taiji des Mikrokosmos Körper, die Daoisten nannten es „die Schlucht des geheimnisvollen Ursprungs“.

Meine Anfänge in Taijiquan und Qigong

Bis ich den Zugang zum Lebenstor fand, dauerte es lange, denn ich übe Taijiquan bereits seit 1973. Mein Einstieg waren die Acht Brokate, die ich später jahrelang in Wochenendkursen unterrichtete. Die erste Form lernte ich nach einem Buch, weil es keine Lehrer gab. Es war die kurze Yang-Form nach Zheng Manqing, die ich 1975 bei William C. C. Chen in New York und 1977-1978 bei Meister Gan in Taipei vertiefte.

1975 schaute ich in London nach dem dortigen Taiji-Angebot und entdeckte Meister K.H. Chu durch eine Zeitungsanzeige und suchte ihn das erste Mal auf. Ich hatte bereits begonnen, zu unterrichten und wandte mich an ihn, weil ich das Gefühl hatte, mit der kurzen Yang-Form nicht recht weiterzukommen: immer nur entspannen, loslassen, weich werden – da fehlte mir etwas. Aber es blieb bei wenigen Tagen Unterricht, in denen er sich eher widerstrebend – wohl wegen meiner Vorkenntnisse, die er nicht akzeptierte – mit mir beschäftigte. (Zheng Manqing war eine persona non grata in der Yang-Familie, die Meister Chu vertrat). Bei meinem ersten Aufenthalt in Taipei 1977, den ich wegen Wang Yen-nien, einem Meister in der Nachfolge von Yang Banhou, unternahm, traf ich Meister Chu, der privat in Taiwan war, zufällig im Park wieder. Daraufhin beendete ich meine kurze Lehrzeit bei Wang Yen-nien und ging ab 1978 regelmäßig zu Meister Chu in London, zwar 1978 nochmals nach Taiwan zu Henry Wang, der später nach Kanada auswanderte, lernte aber dann von 1979 bis 2005 ausschließlich bei Meister Chu die authentische Yang-Form im Yang-Familienstil. Diese löste die drei Yang-Stil-Varianten der anderen Lehrer ab, was eine für mich zunächst anstrengende Umstellung zur Folge hatte. Es dauerte Jahre, bis ich damit vertraut wurde und die Besonderheiten verstand.

Der Rumpf – aufrecht oder schräg?

Ein gemeinsames Kennzeichen aller Varianten, die ich anfangs geübt hatte, war die aufrechte Wirbelsäule.
In den 80-er Jahren praktizierte Meister Chu die Form noch schräg nach vorn geneigt, so wie sein Lehrer Yang Shouzong, ältester Sohn von Yang Chengfu. In den nächsten 15 Jahren wurde die Form von Meister Chu jedoch immer aufrechter, ohne dass er erklärte, warum, und ich folgte ihm darin, auch wenn der Grund dafür mir nicht recht einsichtig war. Durch meine Gesangsausbildung, begann ich später jedoch zu ahnen, was der Hintergrund für diese Entwicklung sein könnte: Es hing mit dem Atem zusammen, was Meister Chu dazu brachte, sich aufzurichten. Nur so konnte er die umgekehrte Atmung, bei der der Bauch beim Einatmen eingezogen wird und die er als verbindliche lehrte, gut ausführen.
Mein Gesangsunterricht war nämlich von einer Atemschule geprägt, welche Ein- und Ausatmer als konstitutionelle Typen unterscheidet. Stimm- und Kraftentfaltung werden jeweils entsprechend dem Typ mehr auf den Ein- oder Ausatemvorgang abgestimmt. Meister Chu wäre demnach dem Einatmertyp, sein Lehrer dagegen dem Ausatmertyp zuzuordnen. Ich gehöre auch zu den Einatmertypen und konnte Meister Chu deshalb instinktiv gut folgen. Nach meiner Trennung 2005 von ihm wurde ich frei, beide Atemtypen näher in Bezug auf Taijiquan zu erforschen.

Abb.1.Lebenstor-Qigong1-lunar-yin
Abbildung 1: Einatmer: umgekehrter oder paradoxer Atem Einatmen/aktiv (yin): Körper beugt sich nach hinten, das Zwerchfell senkt sich nach unten, der Brustkorb weitet sich, der Beckenraum verengt sich, Atem und Qi strömen ein, der Atem zieht über den Rücken zum Scheitel, das Qi steigt von unten nach oben, die Spiralen der Arme und Beine „ziehen“ es erst zum Dantian, das Ming Men wird geöffnet.

Der „Knick“ in der Lendenwirbelsäule

Ich begann mich vom Dogma des „bolzengeraden Kreuzes“ zu verabschieden, indem ich die Auswirkungen des leichten Knicks in der Lendenwirbelsäule für die beiden Atemtypen studierte. Hatte ich bisher jahrelang versucht, den umgekehrten oder paradoxen Atem (Meister Chu nennt ihn „inneren Atem“) in der Form zu praktizieren, indem ich Ein – und Ausatmen streng nach den Yin- und Yang-Phasen trennte, so erschloss sich auf einmal eine größere Freiheit: In der Atempause nach dem Einatmen am Ende der Yin-Phase stieg der „wahre Atem“ wie eine Qi – Wolke nach oben, weitete meine Augen, öffnete das Mittlere Dantian, das wie von einem süßen Nektar erfüllt wurde (ich kann es nur so poetisch ausdrücken), und irgendwann im Verlauf der Yang-Phase löste sich der Ausatem, um nach unten zu rieseln. Wenn ich diesen Zustand in Partnerübungen erreichen konnte, so erfuhr ich die Leichtigkeit der Jin-Kraft, die ohne Härte und ohne Schubsen den anderen entwurzeln konnte.

Abb.2.Lebenstor-Qigong1-lunar-yang
Abbildung 2: Ausatmen/passiv (yang): Der Rumpf wird gerade, das Zwerchfell entspannt sich und steigt, der Atem entweicht passiv, der Brustkorb bleibt weit gestellt. Das Qi sinkt auf der Vorderseite nach unten und durch die (nun gegenläufig drehenden Spiralen) durch Arme und Beine nach außen in die Weite. Das Ming Men wird geschlossen.

Ich übe und entwickle Qigong und die Taiji-Form mit dem „wahren Atem“ inzwischen für mich immer weiter. Sie sind nicht nur mein persönlicher Ruhepol und meine Kraftquelle geworden, sondern die Entwicklung des Atems ist auch die Essenz, um die im Unterricht alles kreist. Es ist mir ein Bedürfnis, den „wahren Atem“ schon frühzeitig im Unterricht erfahrbar zu machen, auch wenn die umfängliche Entwicklung schließlich einige Jahre braucht. Das positive Feedback meiner Schüler hat mich darin sehr bestärkt. Die dem Ausatmertyp zugehörigen Schüler haben durch ihr engagiertes Umlernen mit ihrem Feedback viel dazu beigetragen, dass ich die Prinzipien von beiden Atemtypen inzwischen auf alle Vertiefungsstufen des Yangstil-Taijiquan anwenden kann und in eine unterrichtbare Form gebracht habe.

AtemtypTaiji

Abb.3.Lebenstor-Qigong1-solar-yang
Abbildung 3: Ausatmer: normaler oder natürlicher Atem Ausatmen/aktiv (yang): Das Becken schaukelt im „Knick“ nach vorn, der Körper kippt nach vorn, das Zwerchfell steigt auf, wird aber durch die Körperbewegung nach unten gezogen, der Brustkorb und die Flanken verengen sich, Atem und Qi strömen aus nach unten (zunächst nach oben über den kleinen Kreislauf im Rücken), die Spiralen der Beine und Arme „schleudern“ es vom Dantian nach unten und außen, das Ming Men wird geschlossen.

Die Lehre von den Atemtypen wurde erstmals vor etwa 60 Jahren von dem deutschen Musiker Erich Wilk formuliert und ist heute als Terlusollogie® bekannt. Sie unterscheidet zwei konstitutionelle Typen von Menschen, deren Organismus und deren Verhalten in einer erstaunlich deutlichen Abhängigkeit von Sonne und Mond stehen. Gemäß deren Stand zum Zeitpunkt der Geburt wird ein eher sonnenabhängiger, solarer, Typ oder sein Gegenstück, ein mehr mondabhängiger, lunarer, Typ bestimmt. Einer der Kernpunkte besagt, dass entweder das aktive Einatmen oder das aktive Ausatmen den Weg zur eigenen Kraft bahnen: bei den Solaren die Ausatmung, bei den Lunaren die Einatmung. Ich habe die Atemtypen im Taiji durch eigene Praxis und das Feedback meiner Schüler/innen entdeckt, indem ich das weitergeführt und modifiziert habe, was ich über 25 Jahre bei Meister K.H.Chu gelernt hatte. Durch zusätzliches Quellenstudium im Yang-Stil habe ich sozusagen das „ausgegraben“, was immer darin vorhanden war, aber nie systematisch unterschieden und formuliert wurde; denn die Unterschiede, die auf die Atemtypen zurückzuführen sind, galten und gelten im traditionellen Taiji immer noch als individuelle Vorlieben und nicht als Prägungen.
Lunares resp. solares Taiji bedeutet, dass jeweils

  • die Körperhaltung unterschiedlich ist. Die Lunaren stehen aufrecht, die Solaren leicht nach vorn geneigt.
  • die Atmung unterschiedlich ist: Die Lunaren gewinnen ihre Innere Kraft durch aktives Einatmen, die Solaren durch aktives Ausatmen. Die jeweils andere Phase erfolgt passiv bzw. reflexhaft.
  • der Einsatz der Inneren Kraft Jin verschieden ist: Die energetische Ausrichtung der Lunaren geht von unten nach oben (eben beim Einatmen), die der Solaren von oben nach unten (eben beim Ausatmen). Entsprechend wirkt die lunare Kraft „über dem Horizont“, die der Solaren „unter dem Horizont“.

Wie soll man im Taiji atmen? In der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich, in welche Richtung sich das Taiji entwickelt: ob es Äußeres Taiji bleibt (was es zu Beginn des Übungsweges immer ist) oder ob es sich zum Inneren Taiji hin entfaltet.

Abb.4.Lebenstor-Qigong1-solar-yin
Abbildung 4: Einatmen/passiv (yin): Der Rumpf richtet sich leicht auf, der „Knick“ begradigt sich (bleibt aber immer erhalten), das Zwerchfell senkt sich, der Bauchraum entspannt und weitet sich, Atem und Qi strömen ein: Der Atem strömt in Bauch und Flanken, das Qi sinkt von oben nach unten ins Dantian (kleiner Kreislauf in gegenläufiger Bewegung), die (nun gegenläufig drehenden) Spiralen weiten den Beckenraum, das Ming Men wird geöffnet.

Inneres und Äußeres Taijiquan

Inneres Taiji meint die Fähigkeit, den wahren Atem zu entwickeln und beim Gebrauch der Jin-Kraft einsetzen zu können. Es beschränkt sich nicht darauf, innere Abläufe von Atem und Qi zu lenken oder wahrnehmen zu können, weil das nicht alle Prinzipien berücksichtigt, die das Taiji authentisch und einzigartig machen.

Diese sind:

– Biomechanisch:
Die Körperhaltung verwirklicht Taiji als die eine Achse, die Himmel und Erde verbindet. In den Endpositionen der jeweiligen Einzelformen müssen Rumpf- und Beinachse eine einzige Achse bilden. Diese Achse verwurzelt den Taiji-Pol, die innere Säule der Energiezentren, in den Füßen.

– Atemenergetisch:
Der Atem ist (bzw. wird durch Übung) zum wahren Atem, bei dem die Taiji-Bewegungen, vom Geist geführt, den Atem wie von selbst entstehen lassen. Wird der Atemvorgang willkürlich bewegt, ist das „ äußerer Atem“, sprich Atem-„Technik“.

– Kinetisch:
Die Rumpfbewegung muss dynamisch sein und darf nicht darauf abzielen, diesen quasi unbewegt zu balancieren. Der Motor der Dynamik liegt in der unteren Lendenwirbelsäule.

Der „Wahre Atem“

Was ist der wahre Atem in Taiji?
Atmen nach dem Prinzip des Wu Wei, des Nicht-Machens oder des Das Nichtun tun. Taijiquan, die Bewegungskunst nach dem Höchsten Prinzip, entspricht dann dieser Definition, wenn es dem Organismus ermöglicht, sich selbst organisch-rhythmisch zu entfalten. Atmen hat zwei Seiten: Es geschieht einerseits selbstregulierend, in Zuständen reduzierter Bewusstheit, ohne Eingreifen des Willens, und kann andrerseits willkürlich –mittels Atemtechniken – gesteuert werden. Wahrer Atem im daoistischen Sinne bedeutet, den Atem nicht zu „machen“, sondern ihn geschehen zu lassen – und ihn dann bewusst zu führen. So muss er sich im Taiji bzw. bei körperlicher Bewegung so entfalten, dass er die Innere Kraft ermöglicht, darf dabei einerseits aber nicht „gemacht“ werden, weil sonst „Äußere Kraft“ entstünde. Andrerseits darf er auch nicht einfach sich selbst überlassen werden. Wie bei den Bewegungen von Rumpf und Gliedern muss willkürliche Anspannung vermieden werden, und genauso ist es beim Atmen: auf den Einsatz von willentlichen Atembewegungen zu verzichten, sondern ihn zuzulassen, durch Taiji-Bewegungen zu entfalten und mit YI (Vorstellungskraft, Intentionalität) zu führen. Den Atem durch Taijibewegungen zu entfalten bedeutet, dass die Muskulatur von Hals, Bauch Becken und Extremitäten sich harmonisch auf die Atembewegung ausrichten, sowohl in der Ein- als auch in der Ausatemphase.
Im Folgenden werden die zwei Grundpositionen der Ein-und Ausatmung bei beiden Atemtypen dargestellt. Einerseits sind sie unabhängige Qigong-Übungen, die für sich geübt werden können. Zum anderen zeigen sie exemplarisch die Yin- und Yangphasen in der Taiji-Form an deren jeweiligen Ende, d.h. in der Endposition einer Bewegungsform; es sind also „Momentaufnahmen“ aus dem Ablauf der Form.
Die Darstellung ist schematisch, um den Verlauf von Atem und Qi zu zeigen.

Literatur:
Jerry Alan Johnson, Chinese Medical Qigong Therapy, Vol 1, Pacific Grove 2002
Udo Lorenzen, Mikrokosmische Landschaften, Bd 1, München 2006
Rosina Sonnenschmidt, Das Atemsystem – Leben und Bewusstsein, Kandern 2009
Heiner Frühauf, Das Nieren-Netzwerk und Mingmen: Ansichten aus der Vergangenheit, Edition Lingdao
Frieder Anders, Wie ich lernte den Drachen zu reiten, Theseus 2014

Autor: Frieder Anders

Zeichnungen: Rosario Young-Poblete
Fotos: Archiv Anders