Tai Chi Chuan ist nicht nur einfach eine alte Technik zur Selbstverteidigung, sondern es versteht sich selbst als Teil der chinesischen Kultur. Doch trotz des Anspruches, eine Kulturtechnik zu sein, wird im Tai Chi Chuan intensiv nach Natürlichkeit gesucht. Das Streben nach Natürlichkeit innerhalb einer Kulturtechnik scheint in westlichen Augen ein Widerspruch zu sein, doch wird dies auch in China so empfunden?
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der westlichen Auffassung
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der chinesischen Auffassung
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der konfuzianischen Auffassung
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der daoistischen Auffassung
Das Verhältnis von Natur und Kultur im Tai Chi Chuan
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der westlichen Auffassung
Die Wurzel des westlichen Wortes für Kultur findet sich im lateinischen cultura, bzw. im Verb colere, was mit „Pflege“, bzw. „pflegen/ bestellen“ zu übersetzen ist. Die klassische Quelle dazu findet sich bei Cicero in den Tuskalonischen Gesprächen:
„Wie nicht jeder Acker, der bestellt wird, Frucht trägt, so trägt auch nicht jeder Geist, der gepflegt wird, Frucht. Um in demselben Bilde zu bleiben: wie ein Acker, mag er auch noch so fruchtbar sein, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so kann auch kein Geist ohne Belehrung Frucht tragen. Die Pflege des Geistes aber, das ist die Philosophie.“ (Tusc. Disp. II13)
Die von Cicero beschriebene Vorstellung von pflegen, bzw. kultivieren hat Konsequenzen, die bis heute das westliche Denken bestimmen. Cicero glaubt, ein gemeinsames Prinzip hinter dem Ackerbau und der geistigen Entwicklung des Menschen gefunden zu haben: Analog zu den Verhältnissen in der Landwirtschaft ist in der geistigen Entwicklung der natürliche Zustand ein ungepflegter. Es ist grundsätzlich notwendig, diesen Zustand durch Kultivierung zu entwickeln und so für den Menschen verfügbar zu machen. Dies bedeutet, dass sich hier nicht nur ein Gegensatz zwischen dem natürlichen und dem kultivierten Zustand entwickelt, sondern auch ein Gefälle: Nicht das Natürliche, sondern das Kultivierte ist anzustreben. So formuliert Hegel (S. 491 f) z.B.: „…, das Natürliche ist das, was nicht sein soll; die Natürlichkeit ist das, worin der Mensch nicht bleiben soll. Die Natur ist böse von Hause aus…“ In der Verallgemeinerung führte dies in der europäischen Zivilisation letztlich zur Idee der Beherrschung des Natürlichen. Diese betrifft sowohl den Makrokosmos, also die Beherrschung der Umwelt, als auch den Mikrokosmos, d.h. die Beherrschung der Natur des Menschen.
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der chinesischen Auffassung
Ähnlich wie in Europa gibt es in China die Vorstellung, dass der Mensch sich im Laufe seiner Geschichte Schritt für Schritt aus der Natur löste. Die Anfänge der Kultivierung der Menschheit wurden von mythischen Weisen bestritten. Einen Eindruck dieser Vorstellung findet sich in den Anhängen des „Buches der Wandlungen (Yijing)“:
„Als in der Urzeit Fuxi die Welt beherrschte, da blickte er empor und betrachtete die Bilder am Himmel, blickte nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er betrachtete die Zeichnungen der Vögel und Tiere und die Anpassungen an die Orte. Unmittelbar ging er von sich selbst aus, mittelbar ging er von den Dingen aus. So erfand er die acht Zeichen, um mit den Tugenden der lichten Götter in Verbindung zu kommen und aller Wesen Verhältnisse zu ordnen. Er machte geknotete Stricke und benützte sie zu Netzen und Reusen für die Jagd und den Fischfang. … Als der Fuxi-Klan vorüber war, kam der Klan des göttlichen Landmanns auf. Er spaltete ein Holz als Pflugschar und bog ein Holz als Pflugstange und lehrte den Vorteil des Öffnens der Erde mit dem Pflug der ganzen Welt. … Wenn die Sonne im Mittag stand, hielt er Markt ab. … Als der Klan des göttlichen Landmanns vorüber war, kamen die Klans des Gelben Herren, des Yao und des Shun auf. … Sie schabten Stämme aus zu Schiffen und härteten Hölzer im Feuer zu Rudern. Der Nutzen der Schiffe und Ruder bestand in der Vermittlung des Verkehrs. … Sie zähmten das Rind und spannten das Pferd ein. So konnten schwere Lasten gezogen und ferne Gegenden erreicht werden, um der Welt zu nützen. … Sie bespannten ein Holz als Bogen und härteten Hölzer im Feuer als Pfeile. Der Nutzen von Pfeil und Bogen besteht darin, die Welt in Furcht zu halten. … In der Urzeit knotet man Stricke, um zu regieren. Die Heiligen späterer Zeit führten statt dessen schriftliche Urkunden ein, um die verschiedenen Beamten zu regieren und die Untertanen zu beaufsichtigen.“
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der konfuzianischen Auffassung
Im Konfuzianismus folgt man dieser Sichtweise. Durch die Arbeit der Weisen ist der Mensch in der Lage, aus der Natur herauszutreten und zu einem kulturellen Wesen zu werden. Dieser Zustand stellt aber nicht wie im europäischen Denken einen Gegensatz, sondern immer noch ein Abbild der Natur dar. Alles im Kosmos ist wie der Kosmos: Natur und Kultur sind nur ein Ausdruck ein und derselben kosmischen Ordnung. Dieser Zusammenhang wird durch den Begriff der drei Potenzen (sancai) Himmel, Erde und Mensch ausgedrückt, wobei Himmel und Erde die Natur repräsentieren. Zu den drei Potenzen erläutert das „Buch der Wandlungen (Yijing)“:
„Vor langer Zeit, als die Heiligen das Buch der Wandlungen erstellten, folgten sie dem Prinzip der inneren Natur (xing) und des Schicksal. Damit errichteten sie den Weg (dao) des Himmels und nannten ihn yin und yang. Sie errichteten den Weg (dao) der Erde und nannten ihn hart und weich. Sie errichteten den Weg (dao) des Menschen und nannten ihn Mitmenschlichkeit (ren) und das Rechte.“ (Bödicker, S. 18)
Die Harmonie zwischen Himmel, Erde und Mensch soll sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft also durch Humanität und Aufrichtigkeit ausdrücken. Die Befähigung hierzu erlangt man durch eine intensive moralische Schulung, die ihren Ausdruck in fortwährender Selbstkultivierung (xiushen) findet. Die Selbstkultivierung ist die Verbindung zwischen der inneren Tugendordnung und der äußeren Welt. Das Buch der „Großen Lehre (Daxue)“, eines der „Vier Bücher (Sishu)“ der Konfuzianer erläutert:
„Die Alten, die der ganzen Welt ihre klare und reine innere Kraft (de) erläutern wollten, ordneten ihren Staat. Um ihren Staat zu ordnen, regelten sie zuerst ihre Familie. Um ihre Familie zu regeln, kultivierten sie zuerst sich selbst. Um sich selbst zu kultivieren, machten sie ihr Herz/Bewusstsein (xin) recht. Um ihr Herz recht zu machen, machten sie ihre Absicht (yi) wahrhaftig. Um ihre Absicht wahrhaftig zu machen, erweiterten sie zuerst ihr Wissen. Die Erweiterung des Wissens liegt in der Untersuchung der Dinge.“ (Bödicker S.67)
Die Untersuchung der Dinge dieser Welt ist also die Voraussetzung für moralisches Handeln. Hier wird wieder ganz deutlich, dass die äußere Welt des Menschen mit seiner inneren in Verbindung stehen muss. Der Schritt von der Natur zur Kultur ist also durchaus eine „natürliche“ Entwicklung,
Das Verhältnis von Natur und Kultur in der daoistischen Auffassung
Dieser Abschied vom Leben in der Natur fiel den Konfuzianern leicht, den Daoisten gelang er aber nie. Bauer kommentiert:
„Obwohl genau genommen auch sie [die Daoisten] sehr lebhaft an Kultur und Gesellschaft teilnahmen und durchaus auch große Bereiche davon, etwa die Medizin und die Militärstrategie (um absichtlich zwei weit auseinander liegende zu nennen), sogar dominierten, lebte in ihren Schriften immer wieder die nostalgische Sehnsucht auf nach dem unbeschwerten, einfältigen Leben in der unberührten Natur, als der Mensch sich in seiner Besonderheit noch nicht entdeckte und daher von den übrigen Lebewesen noch nicht getrennt hatte.“ (Paul, S. 207)
Die Schaffung der Kultur durch die mythischen Weisen wird bei Zhuangzi höchst kritisch gesehen:
„Die Männer des höchsten Altertums lebten inmitten des Unbewussten. Sie waren eins mit ihrem Geschlecht und erreichten Ruhe und Vergessenheit. Zu jener Zeit war Licht und Dunkel im stillen Einklang; Geister und Götter störten nicht; die Jahreszeiten hatten ihre Ordnung; alle Wesen blieben ohne Verletzung, und die Schar der Lebenden kannte keinen Vorzeitigen Tod; die Menschen hatten wohl Erkenntnis, aber sie gebrauchten sie nicht: das war die höchste Einheit. Zu jener Zeit handelte man nicht, sondern ließ stets der Freiheit freien Lauf. Als dann das LEBEN verfiel, kamen Feuerspender (Suiren) und Brütender Atem (Fuxi) über die Welt. Darum ging wohl alles seinen Gang, aber die Einheit war nicht mehr vorhanden. Als dann das LEBEN noch weiter verfiel, da kamen der göttliche Landmann (Shen Nong) und der Herr der gelben Erde (Huang Di) zur Herrschaft über die Welt. Darum herrschte wohl Friede, aber die Dinge gingen nicht mehr ihren Lauf. Als dann das LEBEN noch weiter verfiel, da kamen Yao und Shun zur Herrschaft über die Welt. Sie brachten die Strömung des Ordnens und Besserns in Lauf, befleckten die Reinheit, zerstreuten die Einheit, verließen den Sinn (dao) stellten statt seiner die Tugenden auf. Von da ab ging die Natur verloren, und man folgte dem Verstand. Verstand tauschte mit Verstand die Kenntnisse aus, und Doch war man nicht mehr fähig, der Welt eine feste Ordnung vorzuschreiben. Darauf fügte man Formenschönheit hinzu und häufte die Kenntnisse. Aber die Formenschönheit zerstörte den Inhalt, und die Kenntnisse ertränkten den Verstand. Da wurden die Leute vollends betört und verwirrt, und kein Weg führte mehr zurück zur wahren Natur und zum Urzustand.“ (Wilhelm 1994, S. 174 f.)
Die Daoisten lehnen Kultur also nicht nur ab, sondern sehen in ihr den Beginn des Niedergangs. Als Ideal gilt das Leben in der Natur, wobei man sich von allen sozialen, politischen und weltlichen Inhalten lösen sollte. Nur durch den Rückzug in die Natur ist man in der Lage, Natürlichkeit zu entwickeln. Aus dieser Geisteshaltung heraus entstand der Begriff des „Unbehauenen (pu)“, der als Gegenbegriff zum „Kulturellen (wen)“ verstanden wird. Interessanterweise sollte aber auch das „Kämpferische (wu)“ ein Gegenbegriff zum „Kulturellen“ werden. Dies trifft auch auf daoistisch geprägte kriegstechnische Schriften zu.
Da die Daoisten das Kulturelle ablehnten, entwickelten sie eine andere Vorstellung zur Selbstkultivierung: die Lebenspflege yangsheng. Dieser Begriff, der ursprünglich auch im Konfuzianismus verwendet wurde, sollte später fast völlig von den Daoisten vereinnahmt werden. In der Lebenspflege versucht der Daoist in Übereinstimmung mit dem Weg (dao) zu leben. Ein Ziel ist es dabei, die Gesundheit zu erhalten und ein langes Leben zu erreichen. Im Werk des Zhuangzi finden sich z.B. drei Strategien der Lebenspflege:
– Das Herz/Bewusstsein-Fasten (xinzhai) – das Bemühen der Einswerdung mit dem qi
– Das Ich-verlieren (sangwo)
– Die Meditation, die mit „sitzend vergessen (zuowang)“ bezeichnet wird
Das Verhältnis von Natur und Kultur im Tai Chi Chuan
Vergleicht man nun die Gedanken des Konfuzianismus und Daoismus zum Kultur- und Naturbegriff, so findet man als gemeinsame Vorstellung, dass der Mensch als Teil des Kosmos eben ein Spiegelbild der kosmischen Prinzipien ist. Gleichgültig, ob man Natürlichkeit im Kulturellen sucht oder die Natur als etwas Heiliges auffasst, ob man durch Selbstkultivierung den konfuzianischen Humanismus pflegt oder durch Lebenspflege daoistisches Naturvertrauen anstrebt, stets versucht man in Harmonie mit den Prinzipien des Kosmos zu leben.
In der weiteren chinesischen Philosophie wird dieses gemeinsame Prinzip hervorgehoben und als Ideal für den Menschen eine Mischung aus daoistischer Natürlichkeit und konfuzianischer Kultiviertheit gefordert. Gerade die Verbindung dieser zwei Eigenschaften gelten als Garant für eine harmonische Persönlichkeit.
Das wird auch im Tai Chi Chuan angestrebt. Der Übende soll sich durch die Kulturtechnik Tai Chi Chuan nicht von der Natürlichkeit entfernen. Ganz im Gegenteil, denn Kultivierung und Natürlichkeit bilden keinen Widerspruch. Sie sind einfach nur zwei Seiten einer Medaille. Durch Kultivierung des Selbst erreicht man Natürlichkeit und die Entwicklung von Natürlichkeit führt zu Kultiviertheit.
Erläutern lässt sich dies z.B. an der Forderung nach der „natürlichen Bewegung“. Nach Auffassung der Tai Chi-Meister erreicht man diese erst durch einen hohen Grad an Übung über einen sehr langen Zeitraum, auch genannt Kungfu (gongfu). Am Ende dieses Prozesses wird dann die Natürlichkeit der Bewegung als ein Ausdruck der Kultiviertheit des selbst und eine Bezeugung der inneren Natur des Übenden verstanden.
Auch heißt es im Tai Chi Chuan, die Atmung sei ganz natürlich. Doch wie oft ist sie es leider nicht. Um zu einer natürlichen Atmung zurückzukehren, erfordert es innere Ruhe und äußeres Training. So ist das Tai Chi Chuan dann in der Lage, den Übenden zu einen ursprünglich natürlichen Zustand zurückzuführen, der einfach nur verloren ging.
Autor: Martin Bödicker
Fotos: Bödicker und taiji-forum.de
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Ein tieferer Blick auf die Klassiker
Der innere Klassiker des gelben Kaisers
Literatur
Bödicker, Martin und Freya, Philosophisches Lesebuch zum Tai Chi Chuan, Düsseldorf 2005 Scientia Verlag Aalen, Aalen 1986 Paul Sigrid, Kultur – Begriff und Wort in China und Japan, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1984 Wilhelm Richard, Hrsg., Dschuang Dsi, Diederichs, München 1994 Wilhelm Richard, Hrsg., I Ging, Diederichs, München 2001 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979