Wuji im Taijiquan

Der Name Taijiquan taucht zuerst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. In dem zentralen Text seiner klassischen Schriften, der Abhandlung des Taijiquan (Taijiquan lun), heißt es gleich zu Beginn:

太極者無極而生。陰陽之母也。taiji zhe wuji er sheng, yin yang zhi mu ye.

Taiji, aus Wuji entstehend, ist die Mutter von Yin und Yang.

Die „Kampfkunst des Allerhöchsten” lässt sich diesem Diktum zufolge nicht ohne Bezug zu Wuji verstehen. Wuji kann übersetzt werden als „das, was kein Höchstes hat”, oder auch als das, was „keine Pole”, „keine Polarität”, „keine Gegensätze”, „keine Extreme” oder „keine Grenzen” hat. Doch was bedeuten Taiji, Wuji und Yin-Yang in der Kampfkunst? Um das zu erörtern gehen wir einen Umweg über die Begriffsgeschichte.

Der erste Satz der Abhandlung stellt eine Anspielung auf Die Erläuterung des Taiji-Diagramms des song-zeitlichen Philosophen Zhou Dunyi (1017-73) dar. Dieser hatte Begriffe, die in der chinesischen Geistesgeschichte bereits eine Rolle spielten, auf damals neue, bis heute einflussreiche Weise, verknüpft.
Yin und Yang hatten sich bereits in der Frühzeit der chinesischen Kultur von der Grundbedeutung des Lichten und des Dunklen zu einer Art Urbild aller Gegensatzpaare entwickelt. Ab dem vierten oder dritten Jahrhundert v. u. Z. meinten die Philosophen in dem dynamischen Wandel von Yin und Yang ein Harmonieprinzip zu erkennen, das den ganzen Kosmos regulierte und damit auch die Welt der Menschen einschloss. In einem Kommentar zum Yijing heißt es:

Den Weg des Himmels errichten, das heißt Yin und Yang. Den Weg der Erde errichten, das heißt das Weiche und das Harte. Den Weg des Menschen errichten, das heißt Mitmenschlichkeit und Rechtschaffenheit.

Der Begriff Taiji lässt sich erst wesentlich später als das Begriffspaar Yin und Yang nachweisen. Wiederum ist es ein Kommentar zum Yijing, der zur einflussreichsten Schriftstelle wurde. Dort heißt es:

Im Buch der Wandlungen gibt es das Allerhöchste (taiji). Dieses bringt die zwei Urformen (yi) hervor. Die zwei Urformen bringen die Vier Abbilder hervor. Diese bringen die Acht Trigramme hervor. (Xici I)

Die zwei „Urformen” werden mit Yin und Yang gleichgesetzt, deren Zweiheit in einer Einheit (Taiji) gründet. Diese Einheit lässt sich als genealogischer Ursprung der Welt oder als deren oberstes metaphysisches Ordnungsprinzip verstehen.
Wuji taucht in diesem Zusammenhang noch nicht auf. Vereinzelt wird der Begriff, aber ohne Bezug zu Yin-Yang oder Taiji, von den daoistischen Philosophen Laozi und Zhuangzi gebraucht. Bei ihnen steht es für das, was kein Äußerstes oder Höchstes hat, was unermesslich, grenzenlos oder unendlich ist. Richard Wilhelm übersetzt es bei Laozi (Kap. 28) als „Ungewordenes”; vielleicht nicht ganz unbeeinflusst von späteren Vorstellungen im religiösen Daoismus, die Wuji zu einem kosmischen Urzustand erklärten.

Die Auslegung des Yijing hatte zur Verknüpfung von Yin und Yang mit Taiji geführt. Die Verknüpfung von Taiji mit Wuji aber leistete erst Zhou Dunyi mit seinem Taiji-Diagramm und der begleitenden Erläuterung des Taiji-Diagramms:

無極而太極 wuji er taiji.

Wuji und [daher/dann/aber/doch/auch/zugleich] Taiji.

In Bewegung bringt Taiji Yang hervor. Am Limit der Bewegung aber ist Ruhe. In Ruhe bringt es Yin hervor. An ihrem Limit kehrt Ruhe zu Bewegung zurück. Bewegung und Ruhe, einander abwechselnd, werden sich gegenseitig zur Wurzel. […]
Yang verwandelt, Yin verbindet, und so bringen sie Feuer, Wasser, Holz, Metall und Erde hervor. […]
Die Fünf Wandlungsphasen haben ihre Einheit in Yin und Yang. Yin und Yang haben ihre Einheit im Taiji. Die Wurzel von Taiji ist Wuji. […]
Die Zwei Qi korrespondieren miteinander und bringen im Wandel die Zehntausend Dinge hervor. […]
Nur der Mensch erlangt die Pracht all dessen. […] Indem die fünf Veranlagungen stimuliert werden, werden Gut und Böse unterschieden, zehntausend Angelegenheiten kommen heraus.
Der Weise regelt sie durch Mittig-sein, Korrektheit, Mitmenschlichkeit und Rechtschaffenheit. Indem er die Ruhe meistert, errichtet er das Höchste des Menschen. […]
Wie die Verknüpfung von Wuji und Taiji zu verstehen sei – ob es um Entstehungsphasen des Kosmos und/oder die Formulierung seines obersten Ordnungsprinzips geht –, darüber entbrannte eine Debatte unter den Philosophen, die bis in die Theorie des Taijiquan nachwirken sollte.
Noch etwas beschäftigte die Gemüter: Zhou Dunyi, der als Konfuzianer galt, erklärte zum Ideal des Menschen einen Weisen, der aus der Ruhe schöpfte. Das klang in den Ohren orthodoxer Konfuzianer wie verkappter Daoismus.

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Taiji-Diagramm (Taiji tu) von Zhou Dunyi

Eine Nähe und zugleich Distanz Zhou Dunyis zum Daoismus wollten Kritiker bereits in dem von ihm verwendeten Diagramm sehen. Tatsächlich findet sich ein ähnliches, aber anders beschriftetes Diagramm im Daoistischen Kanon (Dazang) unter dem Titel Vorweltliches Diagramm des Allerhöchsten. Es kam die Behauptung auf, Zhou Dunyis Diagramm gehe auf den Adepten der Inneren Alchemie Chen Tuan (ca. 906-989) zurück und habe ursprünglich den Titel Wujitu, „Wuji-Diagramm”, getragen. Es sollte in einer aufsteigenden Linie veranschaulicht haben, wie sich der Mensch aus der Welt der zehntausend Dinge über die Natur erheben könne, um zum Wuji zurückzukehren. Zhou Dunyi, so hieß es, habe die Leserichtung von Chen Tuans Diagramm einfach umgekehrt, um es in das konfuzianische Weltbild einzupassen.
Es waren Fragen, die Zhou Dunyis Nachwelt beschäftigten. Denn erst der bedeutende neokonfuzianische Philosoph Zhu Xi (1130 – 1200) machte das Taiji-Diagramm und seine Erklärung bekannt. Zhu Xis Philosophie operierte mit zwei zentralen Begriffen, die später auch in der Theorie des Taijiquan eine Rolle spielen sollten. Qi verstand er als die Welt des Wandels, in der Yin und Yang wirken. Das Prinzip (li) hingegen, das in jedem einzelnen Wesen und Ding wirkt, galt ihm als unveränderlich. Das oberste Prinzip aller Wesen und Dinge sei Taiji, das Allerhöchste. Es teile sich allem mit, was in der Welt des Qi ist. Dass es selbst aber jenseits von Bewegung und Ruhe sei, habe Zhou Dunyi dadurch ausgedrückt, dass er es durch Wuji bestimmte, in dem keine Gegensätze und kein Wandel sind. Wuji war in Zhu Xis Lesart eine Charakterisierung von Taiji, nicht diesem vorgelagert oder übergeordnet.
Dem widersprachen daoistische Interpretationen, denen zufolge Wuji ein eigentlich unbeschreiblicher Zustand diffuser Einheit und Unbestimmtheit noch vor Taiji war. Eventuell hat sich diese daoistische Vorstellung von Wuji als Urzustand erst in der Song-Zeit in Auseinandersetzung mit Zhou Dunyis Taiji-Diagramm entwickelt. Nach Isabelle Robinet sahen die Konfuzianer das Verhältnis von Wuji und Taiji als eines der Identität, Daoisten hingegen als ein Nacheinander. Daoisten wollten aus der Welt der zehntausend Dinge in einem Umkehrprozess durch Taiji hindurch zurück zum Wuji gelangen. Konfuzianer wollten durch Besinnung auf das oberste Prinzip, das in allem wirkt, wieder in der Welt der zehntausend Dinge ankommen, allerdings in einem – bei Zhou Dunyi durch die Ruhe des Weisen – harmonisierten Zustand.

Die philosophische Debatte zwischen Konfuzianern und Daoisten um die Verhältnisbestimmung von Wuji, Taiji und Yin-Yang setzt sich im Taijiquan fort. In der Theorie lässt sich die Formulierung der Abhandlung des Taijiquan („Taiji, aus Wuji entstehend, ist die Mutter von Yin und Yang.”) entweder als ein Nacheinander oder aber als ein In- und Auseinander interpretieren. Entweder meint der Satz, dass Wuji, Taiji und Yin-Yang in voneinander unterscheidbaren Zustände verortet werden können. Oder aber er besagt, dass Taiji immer schon und unaufhörlich aus Wuji entsteht und immer schon und unaufhörlich Yin und Yang gebiert. Dann handelt es sich um ein permanentes Geschehen, in dem keines, weder Taiji noch Wuji noch auch Yin und Yang, ohne die anderen denkbar ist.
In der Kampfkunst wird die Theorie zwangsläufig an eine Praxis zurückgebunden. Das betrifft die Form und die Anwendungen. In den verschiedenen Stilen, z. T. aber auch innerhalb desselben Stils in verschiedenen Schulen oder Publikationen, werden die Anfangsfiguren unterschiedlich benannt. Formen beginnen mit einer Wuji-, einer Taiji-, einer Vorbereitungs- oder einer Anfangs-Stellung. Es gibt Formen, die am Ende in eine Wuji- oder entsprechend in eine Taiji-Stellung zurückkehren. Immer aber wird die Einkehr von Ruhe betont. Mitunter wird diese Ruhe mit Wuji gleichgesetzt, mitunter nur mit einem Taiji „vor der Unterscheidung von Yin und Yang”. Auch wenn die Terminologie der Meister bei ihren Erklärungen unterschiedlich bleibt, scheint die Existenz einer Ruhephase vor der Form einem „daoistischen Phasenmodell” zu entsprechen.
Demgegenüber steht die Auffassung, wonach das, was mit Wuji, Taiji der Ungeschiedenheit oder gegensatzloser Ruhe gemeint ist, nicht nur vor dem Einsetzen von Bewegung und vielleicht wieder am Ende der Form zu finden sein kann, sondern in der Form selbst präsent sein muss. Leer und ohne Gedanken müsse das Herz (der Sitz des Geistes) auch beim Üben sein, d.h. während der ganzen Form. Nach dieser Lesart ist Wuji im Taiji, nicht vor ihm. Taiji wird gemäß dieser Auslegung nicht nur ein einziges Mal am Anfang und dann vielleicht wieder am Ende der Form geboren, sondern in jedem Moment. Permanent und immer wieder wird es dem Wuji abgewonnen, in jedem Augenblick beginnt alles bei Null. Nach dieser Lesart gilt es, die ursprüngliche Ungeschiedenheit der Nicht-Polarität auch in allem von der Polarität beherrschten Geschehen zu wahren. Das trifft für sowohl die Form als auch die Anwendungen zu. Ist Wuji ihnen vorgelagert oder in ihnen präsent?

Dr.-Christian-Unverzagt

Zhou Dunyi hatte erläutert: „Yin und Yang haben ihre Einheit im Taiji. Die Wurzel von Taiji ist Wuji.” Eine Wurzel aber lässt sich nicht ohne Verlust des Stammes von diesem abtrennen. Worin besteht nun aber die Wurzel des Taiji in der Kampfkunst? Was ist ihre zugrunde liegende Nicht-Polarität?
Bei Anwendungen stehen sich Selbst und Anderer gegenüber, als Gegner im Kampf oder als Partner bei Übungen. Sie verhalten sich zueinander wie Yin und Yang, die sich im permanenten Wechselspiel befinden. Während Taiji als die Einheit der Gegensätze von Yin und Yang zu verstehen ist, liegt seine Wurzel, sein Wuji, in der ursprünglichen Nicht-Polarität von Selbst und Anderem. Am Ende der Abhandlung des Taijiquan heißt es, Mengzi zitierend: „Zu Grunde liegt: Das Eigene aufgeben und dem Anderen folgen.” Erst diese Stelle reichert den ersten Satz der Abhandlung so an, dass aus ihm das spezifische Charakteristikum von Taijiquan, der Kampfkunst des Allerhöchsten, verständlich wird.
Im Taijiquan gilt es, dem Anderen so zu folgen, dass man sein Eigenes, d.h. den Selbst-Pol und mit ihm die Polarität, aufgibt. Nur wenn sich der Gegensatz von Selbst und Anderem im Moment eines Angriffs aufhebt, kommt es zur spezifischen Kraftentwicklung des Taijiquan. Die Kraft, die es zu meistern gilt, ist Eine. Zwei sich gegenüberstehende Körper, als Personen eben noch Selbst und Anderer, werden im Falle eines Angriffs durch die neutralisierende Kraft des Taijiquan zu Einer Gestalt – bis zur, metaphorisch gesprochen, Wiedergeburt von Selbst und Anderem nach dem Zunichtewerden der Angriffs.
Nur die Aufgabe des Eigenen führt zur Leere des Geistes. Nur wenn der Geist leer ist, ist es auch der Berührungspunkt beim körperlichen Kontakt. Man wird durchlässig, kann die Kraft des Anderen aufnehmen und sich mit ihr verbinden. Nur so lässt sich die Eigen-Bewegung verhindern, die weg vom Taijiquan und hin zu Widerstand oder Flucht führt.
Weil der Moment des Kontakts darüber entscheidet, ob man sich in die Bewegung des Anderen einblenden kann, gilt es, vorbereitet zu sein. Deswegen haben die Meister des Taijiquan so großen Wert auf die Vorbereitung in selbst-loser Ruhe gelegt. Damit die Leere in jeder Bewegung ist, muss sie vor jeder Bewegung sein. Aber wenn sie nicht in jeder Bewegung erhalten bleibt, hat sie nicht zu Taijiquan geführt. Der Name der Kampfkunst impliziert ein in Wuji gründendes Taiji, das Yin und Yang in allen Formen des Wechsels vereint. Die Kampfkunst des Allerhöchsten verlangt von einem selbst: sein Verhältnis zu Anderen „aus Wuji entstehend” zu realisieren, aus der Aufgabe des Eigenen.

Autor: Dr. Christian Unverzagt (2016)

Fotos: Christian Unverzagt