Weshalb beschäftigen sich weltweit so viele Menschen mit den unterschiedlichsten Kampfkünsten? In einer Zeit und in Regionen, in denen ein echter Kampf gegen einen Angreifer so gut wie nie vorkommt und es sicherlich effizientere Methoden zur Selbstverteidigung gibt. Auch meint Kampfkunst nicht Kampfsport, es geht nicht darum, Wettkämpfe zu gewinnen oder schneller und stärker als ein Gegner zu sein.
Es geht vielmehr um die Entwicklung des Selbst, um die Überwindung der eigenen Grenzen, im körperlicher, öfter aber in geistiger Hinsicht. Das kann eine über Jahre faszinierende Aufgabe sein. So kann ein introvertierter Mensch in den Kampfkünsten lernen, aus sich heraus zu gehen, während ein Extrovertierter die Erfahrung der Ruhe, Langsamkeit und Gelassenheit machen kann.
Kampfkünste werden in äußere und innere Kampfkünste unterteilt beziehungsweise in harte und weiche. Wie schon ein Neugeborenes über Bewegung sehr viele Erfahrungen machen kann und sensomotorisch lernt, kann auch der Erwachsene Mensch durch Bewegungsaufgaben wesentliche und neue Impulse bekommen. Da Bewegungsmangel als Krankheitsursache in allen westlichen Industrieländern gilt, wird sich Bewegung immer positiv bemerkbar machen, sofern sie nicht mit einem übersteigerten Leistungsgedanken kombiniert ist.
In den äußeren Schulen wird dabei viel Augenmerk auf die körperliche Schulung gelegt, etwa die Entwicklung von Muskelkraft, besonderen Fähigkeiten in der Dehnung und Geschwindigkeit. Oft von der ersten Stunde geht es um Anwendungsmöglichkeiten und es wird mit Partnern trainiert. Die Kraft wird dabei durch Muskeleinsatz erzeugt. Bekannte äußere Kampfkünste sind Shaolin Kungfu, Karate, Tae-Kwon-Do und Wing-Tsun.
Innere Arbeit für mehr Lebensenergie
In den inneren Schulen hingegen wird sehr viel Wert auf Koordination, Ruhe in der Bewegung, einem dynamischen Fluss und Aufmerksamkeit gelegt. Die Verbindung von körperlicher Bewegung, oft Atmung, von Vorstellung und geistiger Konzentration führt oft über mehrere Jahre hinweg zur Entwicklung einer inneren Kraft. Meister dieser Disziplinen werden nicht müde zu betonen, dass nicht Muskelkraft das Ausschlaggebende ist, um innere Stärke zu erlangen.
Wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung dieser inneren Kraft sind eine gute Entspannung, eine locker aufgerichtete und leicht bewegliche Wirbelsäule, eine ruhige tiefe Bauchatmung und die Fähigkeit mit Lebensenergie aktiv zu arbeiten. Aus diesen Gründen können innere Kampfkünste von beinahe jedem erlernt werden und sind außerordentlich gesund. Die Gefahr einer Verletzung ist gleich Null. All diese Aspekte finden sich in den inneren Künsten wie dem Taiji Quan, Bagua Zhang, Yiquan, Xingyi Quan oder Aikido.
So lernt der Schüler im Lauf der ersten Jahre, Lebenskraft einzuspeichern und abzugeben, die Lebensenergie zu lenken, die Atmung zu beruhigen und sich leicht und geschmeidig im Fluss zu bewegen. Dafür gibt es oft bestimmte Trainingsmethoden, um bestimmte Aspekte der Kunst zu üben.
In vielen Schulen spielt etwa Meditation eine große Rolle, um Atmung und Geist zu trainieren und zur Ruhe zu bringen. Meist zählt eine philosophische oder moralische, manchmal auch religiöse Bildung zu einer umfassenden Beschäftigung mit der jeweiligen Disziplin.
Eine Kampfkunst, die diese Namen verdient, beinhaltet das Studium klassischer Texte und moderner Anatomie. Das Wissen um günstige Ernährungsformen zählt ebenso dazu wie jenes um Selbsthilfe bei diversen kleineren Verletzungen und zur Vorbeugung bei Krankheiten. Im Taiji Quan etwa ist es erwünscht, die Texte von Laotse und Dschuangtse zu kennen, sich mit Akupressur und der Ernährung nach den fünf Elementen (eigentlich fünf Wandlungsphasen) zu beschäftigen. Im fortgeschrittenen Stadium wird dann oft auch mit Waffen geübt, manchmal schneller und mit Partner trainiert, um einen umfassenden Zugang zu den jeweiligen Künsten zu erlangen. Und regelmäßiges Training, allein, in Gruppe oder durch Anleitung eines Lehrers ist eine Grundvoraussetzung für einen nachhaltigen Effekt. Dazu ist Disziplin vor allem sich selbst gegenüber notwendig in einer Zeit, in der es viele Möglichkeiten der Ablenkung gibt.
Innere Kampfkünste als Lebenseinstellung
Die Beschäftigung mit einer derartigen umfassenden inneren Kampfkunst wird dann für viele Menschen zu einer Lebenseinstellung und einem wesentlichen Teil ihres Lebens. Es geht oft darum, Verantwortung für das eigene Handeln, die eigene Gesundheit und die eigenen Worte zu übernehmen. Dafür ist eine gewisse geistige Reife notwendig. Das Schöne an den weichen Kampfkünsten ist es, dass beinahe jeder damit beginnen kann, egal in welchem Alter und in welcher Konstitution.
Durch langjähriges Üben werden Ihre Beine stark und die Knie beweglich, Ihre Abwehrkraft und Stressresistenz nehmen zu und Ihre Möglichkeiten zu handeln vermehren sich. Wie reagieren Sie etwa auf eine verbale Beschimpfung? Totaler Rückzug und sofortiger Gegenangriff mit Worten oder Fäusten wären Extremvarianten einer Reaktion.
In den Partnerübungen des Taiji Quan beginnt zum Beispiel man mit einem langsamen und sanften Druck auf die Schulter. Auch hier sind diese Extremvarianten zu beobachten. Manche Menschen bauen sofort Gegendruck auf, andere wiederum weichen zurück und kollabieren. Es dauert oft lange, bis man lernt, ruhig zu bleiben, sich einfach wegzudrehen und die Kraft des Partners ins Leere laufen zu lassen.
Dieses Prinzip auf einen verbalen Angriff zu übertragen, kann echte Lebenskunst und Kampfkunst im Alltag sein.
Die ersten Grundlagen in den Partnerübungen haben die Namen „zuhören“, „verstehen“ und „auf den Partner eingehen“. Das klingt weniger nach Prügelei, als vielmehr nach einer kommunikativen Situation. Und das trifft die Grundidee auch sehr gut. Wie reagieren Sie auf eine Kraft – positiver oder negativer Natur –, die von außen auf Sie einwirkt. Bevor Sie nicht zugehört und verstanden haben, was Ihr Gegenüber von Ihnen will, macht es keinen Sinn zu reagieren. Viele Missverständnisse haben hier Ihre Ursache und oft wird auch in Arbeitsprozessen viel Zeit und Energie verschwendet, wenn Dinge nicht klar sind. Eine Optimierung in diesem Bereich wäre Kampfkunst im Arbeitsleben.
Die Herausforderungen des Alltages
In jedem Fall geht es darum, äußere wie innere Umstände zu beeinflussen, die Ihre Lebenskraft rauben oder ihr Wohlbefinden beeinträchtigen. Sie sind immer weniger das Opfer dieser Umstände, sondern haben gelernt zu reagieren, adäquate Handlungen zu setzen, sich abzugrenzen und zu schützen.
Gerade in den chinesischen Kampfkünsten spielt der Energiebegriff eine ganz zentrale Rolle. Wie können Sie Energie speichern und aussenden, wie können Sie aufnehmen und sich reinigen, wie wird Ihr Energiehaushalt positiv oder negativ beeinflusst? Auf diese Dinge einzugehen, regelmäßig Ausgleiche zu suchen ist sicher ein Aspekt von Lebenskunst. Sich nichts gefallen zu lassen und sich abzugrenzen ein anderer Aspekt. Uns schließlich gilt es, Positives und Angenehmen bewusst zu suchen und aufzunehmen.
Ein massiv belastender Faktor in vielen Berufen ist der herrschende Dauerstress. Verbunden mit Bewegungsmangel ein kritischer Faktor für Gesundheit und Wohlergehen von Seele, Körper und Geist. Wie Sie mit diesen Gefahren eines normalen Alltages umgehen, können Sie im qualifizierten Unterricht einer inneren Kampfkunst sehr gut erlernen.
So können Sie über die Jahre Lebensenergie aufbauen und auf vielen Ebenen enorm dazu beitragen, gesund zu sein, sich wohl zu fühlen und glücklich zu sein.
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Taijiquan als Lebenskunst
Autor: Armin Fischwenger
Weitere Informationen zum Autor finden Sie auch unter seinem Artikel zum „Medizinischen Qigong„.
Fotos: Armin Fischwenger