Wasser-Taiji

Die mitte-lose Mitte als Strategie

Wasser-Taiji nach Wang Zhuanghong

Wang Zhuanghong kam durch das eingehende Studium der klassischen Schriften des Taijiquan zu einem eigenen Verständnis, das die Qualitäten des Wassers ins Zentrum rückt. Er wollte keinen eigenen Stil gründen, sondern die Ursprungsideen wieder aufleben lassen. Huang Tsui-Chuan hat durch Yang Yunzhong das sogenannte »Wasser-Taiji« nach Wang Zhuanghong kennengelernt und gibt einen Einblick in dessen Grundlagen. Dabei sind die Ba Men Wu Bu, die dreizehn Bewegungsarten und -richtungen von wesentlicher Bedeutung, die hier die Drehung eines Energiekörpers in Bezug zu zeitlichen und räumlichen Faktoren beschreiben. Als grundlegende Kraftquelle wird die Erdanziehungskraft genutzt, was vollständiges Loslassen erfordert, einen Zustand von Wuwei, der ohne feste Verwurzelung und statische Mitte freie Bewegung im Einklang mit dem Energiefluss zulässt.

Wasser-Taiji nach Wang Zhuanghong

Wasser-Taiji ist kein neuer Stil der in den letzten Jahrzehnten weltbekannt gewordenen Kampfkunst Taijiquan, sondern eine Betonung der alten Tradition, die man laut dem »Taijiquan Lun« – Abhandlung über Taijiquan von Zhang Sanfeng – wie das »Strömen eines großen Flusses« praktizieren sollte. Der Begründer Wang Zhuanghong war Schüler von Zhu Gueting und stand in der zweiten Generation der Linie des Yang-Stils nach Yang Chengfu. Angesichts seiner fachlichen Fähigkeiten und Erfahrung als Gutachter chinesischer Kalligraphie hatte er viele Jahre intensiv die schriftlichen Überlieferungen der Taiji-Klassiker studiert und bis neun Stunden täglich verschiedene Kampfkunststile, auch Xingyiquan und Baguazhang, durchgearbeitet. In seiner Vertiefung von Theorie und Praxis fand er heraus, dass die Taiji-Praxis, die wir heutzutage im Park zu sehen bekommen, sowohl beim Ausüben der Formen als auch im Falle der Selbstverteidigung weit von der Grundidee »das Weiche besiegt das Harte« entfernt ist und so der ursprüngliche Geist des Taijiquan verlorengegangen scheint.
Um den ursprünglichen Geist wieder zu begreifen, sollte man über den Sinn der Benennung dieser Kampfkunst nachdenken und sie im Zusammenhang mit der ursprünglichen Form der »Dreizehn Stellungen« neu betrachten. In seiner Forschung fand Wang Zhuanghong einen besonderen Bezug zur klassischen Schrift »Taijiquan Lun« von Wang Zongyue und hob deren Inhalt als wegweisend für Taijiquan hervor. »›Taiji‹ ist aus ›Wuji‹ geboren und zählt als Mutter von Yin und Yang.« So hatte Wang Zongyue im ersten Satz seines Werks schon angedeutet, dass eine Disziplin, die man »Taiji« nennt, mit den Naturgesetzen beziehungsweise mit den Schwingungen kosmischer Energien zu tun hat. Nach chinesischer Weltanschauung, der der Einfluss des Yijing (Buch der Wandlung) zugrunde liegt, ist die Welt durch den Prozess von »Wuji« (Nicht-Polarität) durch »Taiji« (Ursprung der Polaritäten) zum »Xiangji« (Erscheinung der Polaritäten) entstanden. Dieser Prozess wurde von Laozi im Daodejing so beschrieben:
»Aus dem Tao entstand eins.
Aus zwei entstand drei.
Aus drei entstanden die zehntausend Dinge.«
(Zitiert nach John Lash: Reise zum Tao, Sphinx 1998)

Die Logik des Taiji

In China werden Zahlen als Metaphern zur Erklärung kosmischer Phänomene verwendet und als Naturgesetze in eine Reihenfolge, zum Beispiel 0 – 1 – 2 – 3 – 5 – 8, gebracht. Der Zusammenhang zwischen den Zahlen wird als »Taiji-Logik« wahrgenommen. Dabei wird Wuji als Ur-Körper des Universums für die unendliche Leere im Außen mit der Zahl 0 bezeichnet, obwohl man Wuji nicht als einen Zustand wirklicher Leere betrachten soll, in dem nichts existiert, sondern als Urgrund, der alle Energiepotenziale in sich trägt. In Wuji verbirgt sich eine zentrale Kraft, deren Drehung die Ursuppe des Energieozeans dauernd umrührt. Irgendwann begann ein Punkt sich als Zentrum zu bilden und damit wurde die Umwandlung kosmischer Phänomene als Prozess für immer ausgelöst. Dieser Zustand des Uranfangs wird als Taiji für die unendliche Leere im Innern mit der Zahl 1 bezeichnet.

0 = 1
Wuji (0) und Taiji (1) spiegeln das doppelte Gesicht desselben Kosmos wieder. Was diese Begriffe für unser Leben bedeuten sollen, wird nach chinesischer Sichtweise mit zwei Kriterien verdeutlicht. Das eine ist das Verhältnis zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren. Hier steht Wuji als ewige Leere für das Unsichtbare und Taiji als Urbeginn der Entstehung für das Sichtbare. Wie Laozi es nannte: »Sein und Nichtsein erschaffen einander« (zitiert nach Lao Tse, Gia-Fu Feng: Tao Te King, Irisiana 1981), wird das Einander-Sein in der Taiji-Praxis sprichwörtlich so umgesetzt: Der Geist lenkt das Qi und das Qi lenkt den Körper.
Das andere ist die Gegenseitigkeit zwischen Ruhe und Bewegung. Dabei vertritt Wuji als Unveränderbares den Zustand der Ruhe und Taiji als Umwandelndes den Prozess der Bewegung. Ruhe und Bewegung ergänzen sich gegenseitig und erscheinen auch gleichzeitig. »Inmitten der Ruhe ist Bewegung. Ebenso ist in der Bewegung Ruhe.« (Cheng Man-ch‘ing: Ausgewählte Schriften zu T‘ai Chi Ch‘uan, Sphinx 1988, S. 247)
Das Wesen in uns, das uns zum Denken und zum Handeln befähigt, ist mit dem Zustand des Wuji zu vergleichen. Der freie Moment, in dem wir uns in absoluter Ruhe befinden und an nichts denken, wird als Wuji in uns betrachtet. Das Taiji in uns wird unserem Mittelpunkt im Bauch – dem Dantian – zugeschrieben. Von der Drehung dieses Mittelpunktes werden alle Körperteile, wie die zehntausend Dinge der Erscheinungswelt, in Bewegung gebracht. Dabei spielt das Dantian als Kraftquelle aller körperlichen Bewegungen eine entscheidende Rolle, wie es in den »Erläuterungen zur Ausführung der dreizehn Stellungen« so beschrieben ist: »In der Bewegung gibt es nichts, was sich nicht bewegt; in Ruhe gibt es nichts, was nicht ruht.« (a. s. O., S. 242)

1 + 2 = 3
Taiji bedeutet in der daoistischen Kosmologie das Universum. Das Taiji-Zeichen stellt mit der Yin- und Yang-Polarität ein Symbol energetischer Umwandlung dar. Aber während wir bisher bei Taiji eher auf die zwei Felder von Yin und Yang fixiert waren, fokussierte sich Wang Zhuanghong auf »Drei in Eins«: Yin – Mittelpunkt – Yang, was den Zustand in Taiji neu erläutert. Dazu gab er uns einen Stock als Beispiel. Wenn ein Stock auf dem Boden liegt, zählt der Stock in sich als Ganzes; wenn wir den Stock irgendwo anfassen, dann gilt es vom Haltepunkt aus links und rechts zu unterscheiden. Durch den Haltepunkt können wir den Stock auch drehen. So ähnlich können wir uns den Beginn kosmischer Prozesse vorstellen. Die Eins in der Mitte ist der Schlusspunkt für die Entstehung der Yin- und Yang-Polaritäten, denn ohne den Mittelpunkt gibt es kein Yin und Yang zu definieren.
Denn das Wort »Mitte« ist im chinesischen Sinne nicht nur als Punkt zu betrachten, sondern auch als Zwischenraum, deswegen wird die Beweglichkeit des Mittelpunkts in der Taiji-Praxis mit dem inneren Raum des Körpers verbunden. Das heißt, wenn der Stock zehn Zentimeter lang ist, wird der Mittelpunkt nicht auf dem Punkt fünf Zentimeter festgelegt, sondern es gibt einen Zwischenraum zwischen null und zehn, in dem man seinen Mittelpunkt auspendeln kann. Die »S-Linie« zwischen Yin- und Yang-Polarität kann als Spur des Mittelpunkts betrachtet werden.
Angesichts dieser Betrachtung hatte Wang Zhuanghong die Wichtigkeit des Mittelpunkts entdeckt. Eine bewegliche Mitte wurde von ihm strategisch verwendet, um Angriffe abzuwehren. Danach sollte man seinen Mittelpunkt nicht fest verankern, sondern wie einen Lotus im Wasser beweglich halten. Sein Tipp – eine mitte-lose Mitte als Strategie – bringt uns zum Nachdenken.

5 + 8 = 13
In der chinesischen Weltanschauung wird die Zahl Drei als mystische Zahl für den Beginn der sichtbaren Welt betrachtet. Zur Auslegung der Erscheinungswelt werden zwei Muster – »Wu Xing« und »Ba Gua« verwendet. Wu Xing, die fünf Elemente, stellt die Grundelemente materieller Eigenschaften dar und bringt als fünf Wandlungsphasen deren energetische Zusammenhänge in die Betrachtung. Ba Gua, repräsentiert durch die acht Trigramme des Yijing, stellt die acht Himmelsrichtungen und die Grunderscheinungen der Natur dar. Diese beiden Muster werden in der Taiji-Praxis zur Idee »Ba Men Wu Bu« verknüpft, weswegen das ursprüngliche Taijiquan »Shi San Shi« – die 13 Stellungen – genannt wird.

»Ba Men Wu Bu«

Mit Ba Men werden die Bewegungen eines Energiekörpers, der wie ein Ball in Bezug zu allen Himmelsrichtungen steht, als acht Tore dargestellt und in acht Grundformen umgesetzt – die vier Formen mit Energie in die geraden Richtungen:

– Abwehren (nach oben ),
– Zurückrollen (nach hinten),
– Drücken (nach vorne),
– Stoßen (nach unten)

und die weiteren vier Formen mit Energie in die diagonalen Richtungen:

– Ziehen (spiralig nach unten),
– Spalten (spiralig nach oben),
– Stoßen mit Ellenbogen (spiralig nach innen),
– Schulterstoß (spiralig nach außen).

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Mit Wu Bu werden die Positionen eines Energiekörpers, der wie die Rotation der Erde inmitten der Drehung steht, als fünf Schritte, die Zentrierung in der Mitte, die Bewegung nach vorne, nach hinten, nach links und nach rechts, bezeichnet.
Dabei besteht die Vorstellung, dass sich der Energiekörper bei der Drehung im Uhrzeigersinn dem erschaffenden Zyklus der fünf Elemente entsprechend vergrößert und gegen den Uhrzeigersinn dem kontrollierenden Zyklus entsprechend verkleinert.
Insgesamt geht es bei Ba Men Wu Bu um die Drehung eines Energiekörpers, der in Bezug zu zeitlichen und räumlichen Faktoren seine Position ändert, wobei die Bewegungen der fünf Schritte, wie bei der Drehung einer Scheibe, und der acht Tore, wie bei der Drehung einer Kugel, gleichzeitig stattfinden. Das können wir mit der Drehung eines Korkenziehers vergleichen. Das Zusammenwirken von Ba Men und Wu Bu heißt »Dreizehn Stellungen«. Dass man bisher das ursprüngliche Taiji als 13 einzelne Stellungen verstanden hat, wurde von Wang Zhuanghong als ein dringend zu korrigierender Fehler bezeichnet. Wang Zong-yue schrieb schon beim ersten Satz seines zweiten Taiji-Klassikers »Lied von den dreizehn Stellungen«: »Die Gesamtheit der dreizehn Stellungen sollen wir nicht unterschätzen, weil die Kraftquelle in der Mitte um die Taille herum liegt.«
Beim Interpretieren des klassischen Texts ist das Wort »Gesamtheit« vor dreizehn Stellungen übersehen worden, dieser fehlende Zusammenhang mag die Ursache für die heutige Situation sein, dass der ursprüngliche Geist von Taijiquan in der Praxis kaum zu erkennen ist.
Die Umsetzung des Ba Men Wu Bu gilt für Wang Zhuanghong als Dreh- und Angelpunkt des gesamten Taijiquan-Inhaltes. Er sagte, Ba Men Wu Bu sei das Grundprinzip des Taijiquan und habe den gleichen Wert wie die sieben Grundtöne in der Musik, aus denen jeder seine eigene Melodie hervorzaubern könne. Um zu verstehen, wie der Körper seine Gestalt während der spiraligen Drehung zwischen Öffnen und Schließen oder zwischen Ausbreiten und Verdichten ändert, können wir uns vom Taiji-Zeichen inspirieren lassen, wenn wir die Yin/Yang-Polaritäten nicht nur zweidimensional, sondern dreidimensional betrachten.

Verbindung mit 
der Erdanziehungskraft

Taijiquan ist eine Bewegungskunst, deren Inhalt vom sichtbaren Körper bis zur unsichtbaren Energie ausgedehnt werden kann. Ist etwas nicht sichtbar, bedeutet es nicht, dass nichts da ist. Die Wolken werden erst durch die Verdichtung des Wasserdampfs sichtbar. Auch das, was da ist, wird sich durch die Zeit zum Unsichtbaren in ein Nichts umwandeln. Was bleibt, ist die ewige Umwandlung energetischer Bewegung. Im Taijiquan lernen wir die Sprache der Natur kennen und folgen deren Umwandlung als Prozess. Den Prozess der Natur, wie sie zwischen Nichts und Sein in unterschiedlichen Formen erscheint, können wir mit der Umwandlung des Wassers – von Eis zu Dampf – am einfachsten verfolgen. Wasser als Vorbild zeigt uns den Weg, wohin wir beim Taijiquan gelangen können – vom Sichtbaren zum Unsichtbaren und dann zur Kombination von beiden.
Nichts auf der Welt ist weicher als das Wasser, in der Weichheit liegt die Kraft der Stärke, die alles Harte bezwingen kann. So ähnlich haben wir es schon mal im Daodejing gelesen. Das Weichwerden ist das Hauptthema, das wir durch Taijiquan erreichen möchten. Die Umsetzung des Ba Men Wu Bu dient als Grundlage für den Ablauf der Taiji-Formen. Für das Weichsein wie Wasser müssen wir noch lernen, auf die gewohnte Anwendung der Muskelkraft zu verzichten und uns mit unserem Gewicht der Anziehungskraft der Erde zu überlassen. Anstatt uns auf die Muskelkraft zu konzentrieren, sollen wir uns mit der Erdenergie verbinden.
In Wang Zongyues Werk empfand Wang Zhuanghong einen Satz als wegweisend: »Das ist eine angeborene Fähigkeit und hat mit der Umsetzung von Muskelkraft nichts zu tun.«
Diese Fähigkeit, die in uns allen vorhanden ist, wurde von ihm als gestaltbare Wirklichkeit herausgearbeitet und zur Erdanziehungskraft in Bezug gesetzt. Denn »nichts ist stärker als die Erdanziehungskraft, deswegen tauschen wir die Muskelkraft gegen eine solche 
Energie«. Diese Energie nannte er »kraftlose Kraft«.
Nur durch das vollständige Loslassen ist es möglich, von der Erde getragen zu werden und sich mit dieser Kraft zu bewegen. Dabei kann sich eine schwankende, schaukelnde und spiralförmige Bewegung ergeben, so als ob der Körper von Wellen durchzogen würde. Um sich im Einklang mit den Wellen zu bewegen, sind vier Vorbedingungen als »Wuwei« (Nicht-Handeln) zu beachten:
– keine willkürliche Muskelkraft,
– keine feste Verwurzelung,
– keine statische Mitte und
– keine gezielte Orientierung.
Ohne absichtliche Stellungen sind wir frei von allen körperlichen Einschränkungen und können uns mit dem »energetischen Fluss« der Natur verbinden. Auf diese Weise sind wir wie der Ozean mit der Erdanziehungskraft verbunden und können gleichsam wie eine Welle das große Meer als Wurzel unseres beweglichen Körpers betrachten. Wang Zhuanghong nannte diesen Zustand: wurzellos wurzeln. Von der starren Reiterhaltung, in der man die Beine wie Stöcke in die Erde setzt, wird in diesem Fall abgeraten, weil sie ein Hindernis für die Verbundenheit mit der Kraft der Natur darstellt.

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Die Entfaltung eines Energiekörpers

In Verbindung mit der Erdanziehungskraft lernen wir auch unseren Körper als Energiekörper zu öffnen. Dazu schlug Wang Zhuanghong vor, erst abwechselnd mit dem Gewicht auf einem Bein zu stehen und sich dann zwei verlängerte Linien – als Wurzel in der Erde und als Verbindung zum Himmel – vorzustellen. Mit denen sollen wir beim Sinken des Gewichts den Anker tief bis in die Mitte der Erde setzen und beim Strecken die Schnur vom Scheitelpunkt aus hoch bis in die Mitte des Himmels aufhängen. Dabei entsteht ein dynamischer Prozess, in dem der Körper wie im Wasser hin und her schwankt, um sein Gleichgewicht zwischen Sinken und Steigen zu finden.
Die Kraft des Sinkens und des Steigens hängen untrennbar wie Yin und Yang zusammen. Beides geschieht gleichzeitig, vergleichbar mit dem Bild eines Schiffs im Wasser, welches durch die tragende und steigende Kraft des Wassers am Sinken gehindert wird. So gibt es im Sinken das Steigen und im Steigen das Sinken. Vor allem geht es darum, nicht ausschließlich zu sinken oder zu steigen, denn es gibt kein Yang, das ohne Yin existiert, und umgekehrt.
Den dazwischen entstehenden Raum können wir wie einen Ballon vom Energiezentrum aus öffnen. Zum Öffnen des inneren Raums sind vier Zustände ideal: locker – leer – rund – voll. Das heißt, zuerst sollen wir den Körper, wie einen aufgehenden Teig, von innen heraus erweitern und dabei alle Körperteile locker entspannen. Dann dehnen wir den Körper wie einen vollen Ballon bis an die Haut, so dass die Kraft und die Spannung des Ballons von innen heraus zu spüren sind. Wie man seinen Energiekörper zwischen dem Sinken des Gewichts und dem Steigen der Energie reguliert, verglich Wang Zhuanghong damit, wie man einen Wasserhahn dreht und die vielfältigen Möglichkeiten zwischen kaltem und heißem Wasser variiert.
Für die Entfaltung eines Energiekörpers lassen wir den Körper sich erst rund wie einen Ball öffnen, dann weich wie einen Wasserballon bewegen und anschließend leicht wie einen Ballon in der Luft schweben.

Wasser-Stil Taijiquan

Ob jemand Taijiquan richtig praktiziert oder nicht, entscheidet sich nach Wang Zhuanghong in erster Linie danach, ob jemand die fließenden Bewegungen des Wasser-Elements beherrscht. Das Fließen sei das Wesentliche im Taijiquan und das sei unabhängig von den verschiedenen Stilen. So wie das Wasser aller Flüsse, ob Yangzi oder Rhein, hat das Fließen dieselbe Sprache. Hierin liegt die Wahrheit, die wir suchen.
Die Taiji-Formen, die später durch den Einfluss der anderen Kampfkünste aufgebaut wurden, sind nur die Träger des Energieflusses. Wer die Bewegung den inneren Wellen entsprechend umsetzt, hat das Wesentliche des Taijiquan verstanden. Ohne das Wesentliche in sich zu tragen, bleibt die Gestalt der Formen am Ende nur ein leeres Gerüst.
Nach Wang Zhuanghongs Ansicht soll der Körper als ein fließendes Ganzes agieren. Mit einem Denkmodell von Dian – Xian – Mian – Ti (Punkt – Linie – Fläche – Raum) erklärte er seinen Schülern, wie man seinen Körper zusammenhängend bewegt:

– Das Bild des Wassertropfens (Dian),
– der durch das Fließen zur Linie wird (Xian),
– dann die Linie sich zur Fläche ausbreitet (Mian) und
– danach die Fläche die dreidimensionale Form annimmt (Ti).

Jede Stelle des Körpers kann als Punkt eingesetzt werden und so kann der gesamte Körper, wie mit tausend Ketten verflochten, sich bewegen. Er sagte, überall im Körper gäbe es Wellen.
Schließlich gibt es einen weiteren Zustand als Erweiterung, den er »Chao Li Ti« – den »mehr als dreidimensionalen Energiekörper« nannte. So ähnlich wie Wasser zu feinem Nebel in der Luft verdampft, würden die Energiewellen sich in der Luft verteilen. Und obwohl wir diese Energie nicht sehen, können wir diese Kraft, wie bei Wind oder Sturm, doch spüren. Durch die Verbindung mit »Yi« – der Vorstellungskraft wird die Ausdehnungskraft eines Energiekörpers verstärkt.
Aus der Erfahrung seiner eigenen Praxis setzte Wang Zhuanghong die Kraft des Wassers erfolgreich um. Im Jahr 1987 wendete er bei einer Kampfkunst-Weltmeisterschaft eine besondere Art der Abwehrtechnik an, die er »Cai Lang Hua« (Auf die Wellen treten) nannte. Dabei war kein Angreifer in der Lage, ihn anzufassen, um ihn aus seiner Position zu bringen. Nicht verlieren heißt gewinnen, so hatte er, wie eine moderne Legende, das Weichsein wie Wasser als machbare Realität zur Selbstverteidigung bewiesen. Nach der Verleihung der Goldmedaille wurde er von den Organisatoren des Worldcup gebeten, Taijiquan mit dem Schwert vorzuführen. Fasziniert von seinem Auftritt, als er das Schwert so weich wie die Wellen bewegte, kam der leitende Wettkampfrichter von der Bühne herunter und nahm sein Schwert in die Hand. Staunend sagte er: »Oh! Das Schwert ist doch nicht aus Blech, sondern aus Stahl geschmiedet.« Dann erklärte Wang Zhuanghong ihm, wenn der Körper sich wie Wasser fühle, dann wirke Metall in der Hand wie ein Stück Holz im Meer, das im Einklang mit den Wellen schaukelt.
Sich wie Wasser zu bewegen gilt für ihn als erste Stufe, um die Energie im Taijiquan zu verstehen; danach können die verschiedenen Faktoren kosmischer Phänomene wie Wind, Feuer und Leere im All zusätzlich ins Spiel kommen. Um die Bedeutung des Wasserelements zu betonen, hat er seine Richtung »Wasser-Stil Taijiquan« genannt. Genauer gesagt heißt der Titel mit Bezug auf seinen Familiennamen und als Ehrerbietung an den Taiji-Klassiker von Wang Zongyue »Wang Shi Shui Xin Taijiquan«, »Wangs Wasser-Stil Taijiquan«.
Seit seinem Tod wird diese Richtung von seinem Nachfolger Yang Yunzhong weitergeführt, der das Institute of Chinese Taiji-wisdom in Hongkong als Zentrum für das Wasser-Stil Taijiquan gründete.

Die Vision von Wang Zhuanghong

Womit Wang Zhuanghong seine Taiji-Anhänger begeisterte, war nicht nur seine verzaubernde Kampfkunst, sondern auch die erhellenden Erläuterungen in seinem Unterricht. Ausgehend von seinem tiefen Wissen über Buddhismus und chinesische Philosophie konnte er das Wesentliche im Taijiquan mit dem Kern verschiedener Lehren verbinden, etwa dem Nicht-Handeln des Daoismus, der Harmonie der Mitte von Konfuzius und dem Wesen der großen Leere des Buddhismus.
Seiner Ansicht nach stammt Taijiquan nicht nur aus der daoistischen Lehre, sondern, wie die gesamte chinesische Kultur selbst, aus den gemeinsamen Einflüssen unterschiedlicher Philosophien und Religionen. Um die Tiefe im Taijiquan zu verstehen, sollte man sich auch damit beschäftigen. Taijiquan ist mehr als eine Kampfkunstmethode. Darin liegt die Weisheit, in der die Menschen das Wesen des Lebens erfasst haben. Durch das Aus-üben dieser meditativen Bewegungskunst sind wir auf dem Weg der Selbst-Kultivierung – einer Art innerer Bildung, die unsere spirituelle Entwicklung fördert und uns zur Erleuchtung führen kann. Taijiquan ist Philosophie und Kunst zugleich, in der sich die Vollkommenheit des Inneren mit dem Ausdruck des Äußeren harmonisch verbindet. Das Zurückkehren in den eigenen Ursprung ist in der chinesischen Philosophie als oberstes Gebot des »Tian Ren He Yi« (Himmel und Mensch vereinen) erwünscht.

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Autorin: Huang Tsui-Chuan,
geb. 1958 in Taiwan, war als Sozialarbeiterin zehn Jahre berufstätig, bevor sie 1989 nach Deutschland kam, um Erwachsenenbildung an der pädagogischen Hochschule Freiburg zu studieren. Sie lernte Taijiquan bei Lian Tze, einem der drei anerkannten Schüler von Zheng Manqing in Taiwan, und wurde von ihm als Nachfolgerin eingesetzt. Seit 2000 arbeitet sie als Taiji- und Qigong-Lehrerin in Freiburg und Umland. Sie hat ihre Tätigkeit »Shan Shui Tai Chi/Qi Gong« genannt und organisiert Seminare mit Yang Yunzhong in Deutschland.

Dieser Artikel wurde zuerst bei unserem Kooperationpartner dem Taijiquan & Qigong Journal im Heft 01/2015 veröffentlicht.

Fotos: Huang Tsui-Chuan

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