Kinder in Balance

Qigong und Taijiquan für Kinder

KFK-06Das Besondere an Qigong ist nicht die äußerliche Bewegung, nicht das äußere Können. Es ist das Zusammenspiel von Körper und Geist, die Fähigkeit, die eigene Energie, das eigene Qi zu pflegen und zu lenken. Die Qualität der äußeren Bewegung ist idealerweise eine Folge der inneren Führung. Es ist – so gesehen – eine recht „erwachsene“ Angelegenheit. Deswegen ist es nur folgerichtig, dass es zunächst nur für Erwachsene angeboten wurde und viele Unterrichtende auch meinten, es sei keine Übungsmethode für Kinder.

Tatsächlich reift unsere Fähigkeit zur Innerlichkeit, die auch etwas mit Besonnenheit, vielleicht sogar Weisheit zu tun hat, im Lauf des Lebens. In der Kindheit und Jugend ist unsere Aufmerksamkeit mehr nach außen gewandt, der Mensch will sich dort beweisen, die eigenen Kräfte spüren und erproben, die Welt erobern. Doch leben wir in einer Zeit, in der die äußeren Reize im Übermaß da sind – in Menge und Taktung. Zugleich sind sie immer weniger zu erleben und zu durchleben, sei es, weil sie zu schnell aufeinander folgen, oder, weil sie sowieso nur noch virtuell angeboten werden – und das Leben sich hauptsächlich im Kopf abspielt. Wenig körperliche Erfahrung, viel kognitive Leistung, viele Anforderungen, wenige Momente der Ruhe – niemals Lange-Weile…

Diese Dysbalance tut auch Erwachsenen nicht gut, doch für Kinder in der Entwicklung stellt sie eine besondere Herausforderung dar, der nicht alle Kinder gewachsen sind. Übungswege wie Qigong und Taijiquan bieten einen idealen Ausgleich und sind ein Lernweg, wie man mit Überreizung und Überforderung umgehen kann.

Doch selbst in China wird Qigong eher von Älteren praktiziert, dort wie hier üben sich die Jüngeren eher in den chinesischen oder japanischen Kampfkünsten: Kungfu, Karate, Judo etc. Da geht es zunächst um äußeres Können, um Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Kraft und Durchsetzungsvermögen. Mit „inneren“ Varianten wie Taijiquan wird eher erst im jungen Erwachsenenalter begonnen.

Als im 20.Jahrhundert die Kampfkünste nach Europa kamen, war auch Kindertraining bald beliebt. Hier werden auch „innere Werte“ vermittelt wie Kampfgeist, Selbstbeherrschung oder Fairness. Die Disziplin des Trainings entspricht der, mit der man auch in westliche Sportarten gewohnt war, Kinder schon früh einem gewissen „Drill“ zu unterziehen, besonders wenn es um Wettkampf, also um Sieg und Niederlage geht. Wie aber, wenn nicht Drill und Leistung im Vordergrund stehen sollen?  Was ist mit den Kindern, die sich in solch leistungsbezogener oder kämpferischer Umgebung fremd fühlen und die Lust an Bewegung und Körperlichkeit zu verlieren drohen? Was ist mit all denen, die schon an Aufmerksamkeitsstörungen leiden oder sich in anderer Weise im Trubel des Mehr-Höher-Besser-Weiter verloren fühlen? Für diese Kinder bieten Qigong und Taijiquan hervorragende Alternativen.

Doch für ein Kindertraining, das Leistungsvorgaben und jede Form des Drills ablehnt und das individuelle Bedürfnisse genauso ernst nimmt wie ein harmonisches Zusammenspiel von Mensch und Umwelt, gab es aus dem Mutterland des Qigong, aus China, kein Modell. Also entwickelte sich ein passendes Angebot hier bei uns. Die Qigong-Lehrerin Zuzana Sebkova-Thaller aus Augsburg, Mutter von sieben Kindern, war eine der ersten, die die Möglichkeiten erkannte, die in der Methode selbst stecken: Sie entwickelte kindgerechte Geschichten, die die Kinder in Bewegung durchleben konnten, und sie baute sie so, dass viele Qigong-Aspekte in Aufmerksamkeitslenkung und Bewegungsausführung dabei zum Tragen kamen. Da waren die Abenteuer des „Paul Pinguin“, da konnten die Kinder mit Händen und Fingern die Geschichte vom „Wurm im Apfel“ nachspielen oder wie der Maulwurf ans Tageslicht kriechen – viel Qigong ohne jedes „Fachchinesisch“ (siehe Literatur). Aufbauend auf ihren Erfahrungen war sie in Deutschland auch die erste, die eine dreijährige Fachfortbildung zur „Kursleitung Qigong mit Kindern“ anbot.

Qigong, ein Kinderspiel – eine Lebensschule

KFK-12Was macht das „neue Kinder-Qigong“ aus? Man könnte sagen: Im Qigong für Kinder hat sich das Beste aus Ost und West getroffen – zum Wohl der Kinder. Östliche Weisheit und das Erfahrungswissen über die Wirkungsweise von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen, ein ganzheitliches Wissen über die Verknüpfung von körperlichen, geistigen und energetischen Vorgängen und ein Übungsgut, das mal über den Geist (Bilder, gerichtete Aufmerksamkeit), mal über gezielte, prozessorientierte Bewegung das Gesamtsystem Mensch in die Balance bringt auf der einen Seite. Auf der anderen ein demokratisches und emanzipatorisches Menschenbild, dass Kinder als gleichberechtigte, gleichwertige Wesen mit einbezieht. Und eine Vorstellung von Erziehung, die nicht mehr glaubt, Kinder wie Ton nach eigenen Wünschen formen zu müssen, sondern in Kindern ein vollständiges Potential angelegt sieht, dessen Entfaltung es behutsam und verantwortungsvoll zu begleiten gilt. Die rechte Balance zwischen fördern und fordern ist die Devise heutiger westlicher Pädagogik. Ebenso wichtig sind reformpädagogische Ansätze, die keinen Widerspruch zwischen Spielen und Lernen sehen, sondern davon ausgehen, dass jedes „ernsthafte Kinderspiel“ Lebensschule ist. Dies ist der Punkt, an der Qigong für Kinder ansetzt, ebenso wie ein Taijiquan Training, dass über die traditionell-chinesischen Übungsmethoden hinausgeht.

Schon das traditionelle Qigong, besonders dort, wo es von der daoistischen, naturnahen Philosophie beeinflusst wurde, setzt auf unsere Fähigkeit, durch „Verwandlung“ die Kräfte, die sich in anderen Naturphänomenen zeigen, auch in uns wach zu rufen. Dazu gehört die Imitation von Tierbewegungen: Wenn wir uns „hineinversetzen“ in Bär, Tiger, Kranich, Schlange, können wir behäbige Kraft, aggressive Schnelligkeit, schwebenden, klaren Überblick, Wendigkeit erleben. Oder wir spüren, dass wir wurzeln wie ein Baum, fest mit der Erde verbunden, hoch zum Himmel wachsend. Oder erproben, uns im Wind zu wiegen wie ein Bambus oder ein Grashalm, leicht und geschmeidig. Solche Übungen, die den magischen Anteil in unserem Bewusstsein aufrufen, fallen Kindern noch besonders leicht. Deshalb können diese Bilder und Übungen genutzt werden, müssen aber in Ansprache und Ausführung an das Alter der Kinder angepasst werden. Auch spielerischer Improvisation kann man Raum lassen, um von dort aus schrittweise die traditionellen Qigong-Formen zu erarbeiten.

Geschichten erleben und Rückzug genießen

KFK-02Zu Bildern gehören Geschichten. Und am besten lernen wir, das bestätigt auch die neurobiologische Lernforschung, wenn das Neue in Erlebnisse und Zusammenhänge eingebunden ist, die uns auch emotional bewegen. Deshalb eignen sich, zumal für kleinere Kinder, besonders Geschichten, die in Bewegung durchlebt werden. Was ist ein guter innerer Spannungsbogen für so eine Geschichte? Die Dramaturgie braucht nur dem nährenden Zyklus der fünf Wandlungsphasen zu folgen: So könnte die Geschichte mit dem Aufwachen am Morgen beginnen, ein Ereignis weckt die Entdeckungsfreude (Holz), es gibt einen aktiven Höhepunkt (Feuer), ein Gemeinschaftserlebnis, bei dem sich alles „rund anfühlt“ (Erde), ein Zurückziehen und Sammeln (Metall) und schließlich die Rückkehr in die Ruhe (Wasser).

Mit dem entsprechenden Wissen lassen sich aus dem nahezu unendlichen Fundus der Qigong-Übungen Bewegungen finden, die die Organfunktionskreise entsprechend der Wandlungsphasen ansprechen und so die Kinder mit der Übung einen ausbalancierenden Zyklus durchlaufen lassen. Dabei wird das System dann sowohl über den Geist (Vorstellung) als auch über die Körperbewegung angesprochen. Das Kind ist „als Ganzes“ bei der Sache – und bei sich selbst.

Für Sitzmeditation und andere stille Übungen, die den Kindern ermöglichen, sich in sich selbst zurückzuziehen und von den äußeren Reizen Abstand zu nehmen, brauchen Kinder eine andere Ansprache als Erwachsene. Sie differiert außerdem je nach Alter der Kinder. Auch sind die zeitlichen Phasen, in denen die Kinder auf diese Weise erfolgreich üben können, zunächst deutlich kürzer. Passt man sie aber  an, können selbst jüngere Kinder relativ zügig lernen, „bei sich selbst anzukommen“, und genießen dies auch.

Gemeinsam gewinnen

Taijiquan für Kinder bietet zusätzliche Aspekte, da es innere Kampfkunst ist und die Frage danach aufgreift, was „in uns“ zu Konflikt und Friedfertigkeit führt. So wie sich klassisches Formtraining an Kinder unterschiedlicher Altersgruppen anpassen lässt, so auch die Partnerübungen. Von ganz spielerisch bis hoch konzentriert: Hier lassen sich Aspekte wie Konfliktfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Affekt- und Impulskontrolle und soziales Miteinander, dass auf einem gesunden Selbstgefühl basiert, üben.

Gerade im Kindertraining hat es sich als nützlich erwiesen, die meditativen Qualitäten des Qigong zu nutzen, um den Kindern eine gute Basis im Bereich Selbstwahrnehmung und Selbstregulationsfähigkeit zu geben, von der aus sie sich dann in das Abenteuer Kampfkunst stürzen können. Denn für Kinder wie Erwachsene gilt: Um im „Konfliktfall“ mit anderen eine friedliche, niemanden schädigende Lösung finden zu können, muss ich in mir selbst eine sicher Basis haben, die mir erlaubt, sicher, entspannt und zugewandt agieren zu können.

Dieses Aspekte stehen im Taijiquan Training für Kinder ganz oben auf der Liste: Achtsamkeit und Respekt für mich selbst, genauso wie für alle anderen. Dann kann man mit Taiji-Partnerübungen lernen, wie aus scheinbaren Gegnern auch Partner werden können – und dass ein gemeinsames Gewinnen viel schöner ist, als einsamer Sieger zu sein.

Umfassende Informationen zu Thema sind 2016 im TQJ Verlag in diesem Buch erschienen: Dietlind Zimmermann/Norbert Heinrich/H.D. Wöhrle, „Kinder in Balance“. Es bietet gut 100 Seiten Hintergrundwissen (Qigong, Taijiquan, Neurobiologische Lernforschung, östliche und westliche Pädagogik) sowie über 200 Seiten mit 120 illustrierte Übungen für alle Altersstufen.

Weitere Infos: www.kinderinbalance-dasbuch.de

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Das Buch „Kinder in Balance“ in unserem Shop

Taijiquan mit Kindern

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Tai Chi für Kinder

Autorin: Dietlind Zimmermann,

ist Lehrerin und Ausbilderin für Qigong und Taijiquan und unterrichtet seit 1994 in Hamburg. Sie begann 1997 Taiji und Qigong für Kinder anzubieten und entsprechende Qigong-Formen und Unterrichtsmethoden zu entwickeln.

www.taiji-lebenskunst.de, www.bewegte-philosophie.de

Fotos: TQJ Verlag
Illustrationen: Hans Dieter Wöhrle

Literatur:

Dietlind Zimmermann/Norbert Heinrich/H.D. Wöhrle, „Kinder in Balance“, TQJ Verlag 2016

Dietlind Zimmermann, „Qigong für Kinder“, in: „Qigong im Überblick“. TQJ Verlag 2016, S. 206 ff.

Dietlind Zimmermann, „Qigong im Klassenzimmer“, in: „Qigong in Alltag und Beruf. Qualitätsstandard und Anwendungsmöglichkeiten“. TQJ Verlag 2011, S. 147 ff.

Zuzana Sebkova-Thaller: „Der Maulwurf kommt ans Tageslicht. Qigong für Kinder ab dem Grundschulalter“; Buch sowie CD, Hernoul-le-Fin 1998

Zuzana Sebkova-Thaller: „Der Wurm im Apfel. Qigong für Kinder ab dem Kindergartenalter“. Buch sowie CD, Hernoul-le-Fin 1998