Das Taiji im Taijiquan

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Es ist weitestgehend ungeklärt, wann genau der Name der Kampf- und Bewegungskunst Taijiquan entstand. Schon früh wurde aber das Begriffspaar Yin und Yang, als deren Ursprung das Taiji angesehen wird, in der chinesischen Kampfkunst verwendet. So findet sich in der Geschichte der Maid von Yue (wahrscheinlich ungefähr 2000 Jahre alt) diese Beschreibung ihrer Schwertkunst:
„Die Theorie ist sehr subtil und doch leicht zu verstehen. Ihre wahre Bedeutung aber ist versteckt und tief. Die Theorie beinhaltet sowohl große als auch kleine Türen, und Yin und Yang Aspekte. Öffne die große Tür und schließe die kleine, Yin schwindet und Yang blüht auf. Diese Theorie ist auf jede Form des Nahkampfes anzuwenden: Im Inneren einen starken Geist, nach Außen erscheine ruhig und gelassen; erwecke den Anschein einer rechten Frau und kämpfe wie ein furchteinflößender Tiger […]“ (aus Ranné, 2011, S. 62).
Es gibt weitere Anzeichen, dass der Begriff „Taiji“ bereits in anderen – auch gänzlich unverwandten –Bewegungstraditionen (vgl. Henning, 2009, und Wong, 2010) vorkam, was nicht sonderlich überrascht, da das Taiji-Prinzip ein gängiger Begriff in der chinesischen Philosophie ist. Erst seit dem 19. Jahrhundert gibt es Schriftstücke, die dem Taijiquan, dessen Weg wir heute recht klar von der Chen-Familie zunächst zur Yang- und später zur Wu-Familie zurückverfolgen können, eindeutig diesen Namen geben.
Der historische Ursprung des Namens steht nicht im Fokus dieses Artikels, aber worauf ich hinaus möchte: Der Begriff „Taiji“ hat weder Ausschließlichkeitsanspruch für diese eine Kampfkunst, noch war er bewiesenermaßen zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Ausübung schon in Gebrauch. Aber wann auch immer er in Gebrauch kam – er hat die Betrachtungsweise des Taijiquan nachhaltig geprägt und zu vielen philosophischen, daoistischen oder alchemistischen Überlegungen angeregt. In diesem Artikel möchte ich auf einige der möglichen Bedeutungen des Begriffs „Taiji“ im Taijiquan eingehen.

Mentale Aspekte im Taijiquan

In seinem Diagramm zum Wuji schreibt Chen Xin: „Wenn ein Gelehrter beginnt, eine Boxform zu laufen, steht er aufrecht und respektvoll, schließt die Augen und atmet ruhig, beide Hände hängen herab, der Körper ist aufrecht und gerade, die Füße sind identisch [ausgerichtet], im Herzen gibt es keine Sache und kein Gedanke wird gedacht, ehrerbietig und erhaben, als ob man den ursprünglichen Zustand des Wuji erblickt“ (1919, S. 95). Er vergleicht den Anfang der Form und die innere Sammlung mit Konzentration auf den Atem mit dem Wuji. Der Übergang zur Bewegung hin teilt dann Yin von Yang und die Boxform geht vom Wuji in das Taiji über, so dass das „klare Qi gen Himmel steigt und das trübe Qi gen Erde sinkt“, so seine weiteren Ausführungen. Der Begriff Taiji beschreibt hier den noch ungeteilten Zustand.

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Vom Wuji zum Taiji (aus Chen Xin, 1919)

In der Praxis wird in diesem Zusammenhang also angenommen, dass im Moment der Sammlung eine geistige Präsenz trainiert wird, die kein Geteilt-Sein kennt. Der Geist weilt vollkommen im Jetzt. Diese geistige Fertigkeit kann man im Taijiquan dem chinesischen Begriff 神 shen zuordnen. Entsteht in dieser ungeteilten Präsenz eine Idee (意yi), so teilen wir quasi in Dinge, die getan und unterlassen werden, unser Bewusstsein richtet sich auf eine konkrete Handlung. Im Taijiquan richtet sich die Idee normalerweise auf das Erzeugen einer bestimmten Taiji-Dynamik (劲jin). Man könnte in Anspielung auf die ursprünglichen Sinnbilder von Yang, der von der Sonne beleuchteten Seite eines Hügels, und Yin, der im Schatten liegenden Seite des Hügels, sagen, dass das Licht unseres Bewusstseins nun auf die konkrete Handlung schaut und eine Idee von ihr entwickelt, dabei zeitgleich aber andere Dinge nicht mehr beleuchten kann. Wir haben die Teilung erfahren, Yin und Yang sind also entstanden. Im Taijiquan trainieren wir also unter anderem das Gewahrwerden dieses Prozesses und gestalten ihn.
Da die Begrifflichkeiten recht weit gefasst werden können, kann es hier insgesamt um spirituelle Themen bei der Kultivierung des Geistes gehen, aber auch um erkenntnistheoretische Einsicht. Denn im Moment der Ausformung von Geist und Idee entsteht die Achse, an der sich der Sinn auftrennt. In dem Moment, wo sich die umfassende geistige Präsenz auf eine Idee fokussiert, wird die Achse gelegt, die innen von außen, hart von weich, Ruhe von Bewegung trennt und so weiter und so fort.
Diese Idee wird nun gerade in der Bewegungskunst Taijiquan natürlich an den Körper kommuniziert und leitet ihn an und verleiht der Idee körperlichen Ausdruck, weswegen in den alten Schriften der „Herzverstand“ (心xin) als Kommandeur betrachtet wird.
Insofern kann man sagen, dass Taiji die Entstehung von Sinn durch Differenz symbolisiert, dabei aber immer auch die ursprüngliche Einheit gegensätzlicher Zustände beinhaltet.

Körperliche Taiji-Aspekte

Allein die Verwendung des Begriffs „Taiji“ lässt natürlich viele Verquickungen der Kampfkunst mit all den chinesischen Disziplinen zu, die den Begriff ebenfalls verwenden. Er kann also bis in die heutige Zeit sehr weitläufig gedeutet und mit jeglicher (vermeintlicher) chinesischer „Tradition“ verknüpft werden, so obskur und ungewöhnlich sie womöglich auch war. Das führte teils auch dazu, dass man sich im Schrifttum weit von der Praxis des Taijiquan entfernte. Hier möchte ich mich auf einige gängige Aspekte, die für die praktische Ausübung des Taijiquan relevant sind, beschränken.

Bewegung und Ruhe

In Wang Zongyues „Abhandlung zum Taijiquan“ (taijiquan lun) heißt es: „Taiji wird aus dem Wuji geboren, es ist die Mutter von YinYang. In der Bewegung trennen sie sich, in der Ruhe kommen sie zusammen“ (Wang Zongyue in Davis, 2004, S. 156 ff.). Im Taijiquan geht es also darum, den Zusammenhang von Bewegung und Stille zu erkennen. Klassisch wird das häufig auch so ausgedrückt: „in der Stille gilt es, die Bewegung zu suchen, und in der Bewegung die Stille“, oder auch „im Boxen gibt es Säulen, in den Säulen gibt es das Boxen, Säulen und Boxen werden eins.“ So wie Ein- und Ausatmen mit ihren Pausen zusammenhängen, beinhaltet das Taijiquan Ruhepositionen, in denen vor allem auf die innere Bewegung fokussiert werden kann. In der äußeren Stille des Körpers entsteht also innere Bewegung. Und in der äußeren Bewegung wiederum gilt es, den inneren Kern der eigenen Stabilität zu erkennen, sowohl geistig im Sinne von Präsenz, als auch innerlich im Sinne des eigenen Schwerpunktes als Grundachse des Körpers.

Innen und außen

Es klingen also bereits innere und äußere Bewegungen an. Im Taijiquan heißt es hierzu oft „innen und außen verbinden sich“ (neiwai heyi). Die innere Bewegung führt hierbei zum äußeren Ausdruck. Während der äußere Ausdruck sich in der ganzheitlichen Führung von Kraft und Dynamik zeigt und im Blick des Ausübenden deutlich werden sollte, wird er natürlich innen über die Positionierung der Gliedmaßen, innerer Kraftzüge, der Bewegungsidee und so weiter erzeugt. Innen und außen verbinden sich also zu einem „gesamt-energetischen“ Ausdruck.

Öffnen und Schließen

Chen Zhaokui schrieb zur Theorie von Yin und Yang: „Bewegung und Ruhe gebären das Öffnen und Schließen, in der Bewegung wird geteilt, in der Ruhe wird geschlossen“ (in Chen Yu, 2011, S. 51). Die Taijiquan-Formen streben nach einer gewissen Ausgeglichenheit von öffnenden und schließenden Bewegungen. Öffnende Bewegungen folgen einem Bewegungsimpuls, schließende eher einem Entspannungs- und Ruhe-Impuls. Dieser Punkt ist auf der einen Seite recht schnell erfahrbar und oberflächlich betrachtet schon fast banal, aber in Wirklichkeit sehr subtil, da das Öffnen und Schließen, soll es kämpferisch anwendbar sein, sehr exakt über die einzelnen Gelenke geführt werden sollte und innere Bewegungen dieses erst erlauben müssen.

Körperachsen

Betrachten wir das mechanische Öffnen und Schließen als innere Bewegung, so ist diese von der reinen Ortsveränderung des Körpers von A nach B zu unterscheiden. Vielmehr wird jede Bewegung mit einer zeitgleichen Gegenbewegung geführt, wofür Körperachsen, die eine Bewegung in zwei Richtungen teilen, benötigt werden. Chen Zhaokui drückte dieses so aus: „Wenn es rechts gibt, gibt es auch links, wenn es hinten gibt, gibt es auch vorn. […] Wenn oben zieht [sich dehnt], dann kollabiert es unten, wenn rechts zieht, dann sendet links aus“ (in Chen Yu, 2011, S. 51f.). Welche Körperachsen benötigt werden, richtet sich nach der Kraftrichtung und der Bewegungsidee. Stets sind aber links und rechts, oben und unten verbunden und über Achsen koordiniert. In diesem Zusammenhang verkörpert die S-Linie im Taiji-Symbol quasi die Achse, die dann eine Bewegung teilt.

Kreise und Spiralen

Als letzte Bedeutung des Taiji für das Taijiquan möchte ich hier die Kreise und Spiralen anfügen. Sicherlich werden Letztere im Chen-Stil besonders betont, aber auch Wu Yuxiang (der Begründer des alten Wu-Stils) erwähnt in seinen klassischen Schriften: „Mache Schritte, so wie eine Katze geht, und bewege die Kraft (jin), als ob Du Seide spinnst […]“ (aus Davis, 2005, S. 169) und spielt damit wohl auf das „Seidenspulen“ an, den rotierenden und windenden Bewegungen des Taijiquan. Im Chen-Stil heißt es: „In diesem Boxen bewegen sich alle Aktionen immer in spiraligen Kreisen, der gesamte Körper ist koordiniert, wenn sich ein Teil bewegt, gibt es nichts, das sich nicht bewegt, wenn ein Teil ruhig ist, gibt es kein Teil, das nicht ebenfalls ruhig ist“ (Chen Zhaokui in Chen Yu, 2011, S. 51). Das Taiji-Symbol verbildlicht hier die kreisrunden und spiraligen Formbewegungen, die man häufig auch im frühen Lehrmaterial festzuhalten versuchte.

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Das Bewegen innerer Kraft (aus Chen Xin, 1919) und weitere Anlehnungen an das Taiji-Symbol bei Du Yuanhua (1935)

Schlussbemerkung

Der Begriff des Taiji beschreibt also Gegensatzpaare, aber nicht im Sinne eines „A oder B“, sondern eines „A und auch B“: „Gemäß der Theorie von YinYang gibt es Bewegung und Stille, Öffnen und Schließen, Leere und Substanz, hart und weich und weitere solche Anwendungsmethoden. Die Wechsel sind vielfältig“ (Chen Zhaokui in Chen Yu, 2011, S. 51). Taijiquan betont insofern auch nicht so sehr einzelne Anwendungstechniken, sondern vielmehr den Übergang zwischen denselben, so dass es zu einem anderen Bewegungsfluss kommt. Das heißt aber natürlich auch nicht, dass die einzelnen Techniken vergessen oder nutzlos werden sollten.
Insgesamt bietet der Begriff also Anbindung an philosophische Konzepte, aber er beschreibt eben auch eine konkrete Körperarbeit. Philosophische Betrachtung und physische Umsetzung wechseln sich in vielen frühen Taijiquan-Schriften ab. Die Schriften beschäftigen sich mit dem Boxen (quan), aber das in einer Sprache, in der man zu dieser Zeit üblicherweise Dinge erörterte, also mit vielen Zitaten aus philosophischen Schriften und Einordnungen in die geisteswissenschaftliche Tradition Chinas. Die Überlieferung des Taijiquan befindet sich aber nicht in Begriffen, sondern in Bewegungen, die traditionell in Formen zusammengefasst und weitergegeben wurden. Auf begrifflicher und konzeptionellen Ebene bieten sich immer viele Interpretationsweisen an – was man heute an den unterschiedlichen Stilen und auch an den großen Unterschieden innerhalb der einzelnen Stile erkennen kann. Dabei sollte aber klar sein: Das konkrete Training erschöpft sich nicht in den philosophischen Überlegungen, wenn es Früchte tragen soll.

Autor: Nabil Ranné

Fotos: Nabil Ranné und Taiji-Forum.de

Weiterführende Literatur zu Begriff taiji

Literatur
Chen Xin (1919). Chenshi taijiquan tushuo (reprint 2007). Taiyuan: Shanxi kexuejishu chubanshe.
Chen Zhaokui (2011). Chenshi taiji quan fa zong ge. In: Chen Yu. Taiji Rensheng. Mingjia Shuhua Chubanshe, S. 51f.
Henning, S. E. (2009). Taijiquan: Symbol of Traditional Chinese Martial Arts Culture. Journal of Chinese martial studies (1), 76-83.
Ranné, N. (2011). Die Wiege des Taijiquan. Logos: Berlin.
Davis, B. (2004). Taijiquan classics: an annotated translation (commentary by Chen Weiming). Berkeley, Calif.: North Atlantic; Enfield: Airlift [distributor].
Wong Yuen-Ming (2010). Taijiquan: Heavenly Pattern Boxing, in: Journal of Chinese Martial Arts, Winter 2010, Issue 2.